Wissenschaftliche Glaubensforschung

Buchvorstellung - 17.10.2010

Ulrich Schnabel
Die Vermessung des Glaubens

München: Karl Blessing Verlag. 2009
570 Seiten 24,95 Euro
ISBN 978-3896673640

Jene im Kreuzzug der Neoatheisten unters Volk gestreuten Pamphlete und die mitunter ähnlich gehaltlosen Erwiderungen nicht weniger religiöser Revanchisten sorgten zuletzt für ein reges Rauschen im Blätterwald, einem Blätterwald, der mancherorts bloß noch einem Augiasstall glich. Der heraklesschen Aufgabe, diesen auszumisten, nimmt sich nun Ulrich Schnabel in seinem umfassenden Werk "Die Vermessung des Glaubens" an.

Auf mehr als 500 Seiten erschließt der Wissenschaftsjournalist der ZEIT seinen Lesern das weite Feld der Glaubensforschung, leuchtet es im steten, multifokalen Perspektivenwechsel von Medizin, Placeboforschung, Neurotheologie, Religionspsychologie oder Evolutionsbiologie ebenso weiträumig wie tiefgehend aus. Um ein hohes Maß an Objektivität bemüht, gelingt es Schnabel dabei, einen Blick hinter die Fassade von wissenschaftlicher Exaktheit und dogmatischem Wahrheitsanspruch zu werfen und so differenzierte Erkenntnisse zu gewinnen: "Zu sagen, das Gehirn bringe Religion hervor, ähnelt der Behauptung, ein Klavier produziere Musik" (210) lautet eine an Max Webers "religiöse Unmusikalität" erinnernde, beinahe demütig wirkende Einsicht im neurotheologischen Diskurs angesichts der erörterten, avantgardistischen Theorien etwa eines Ramachandrans ("Gottesmodul") oder auch vor dem Hintergrund empirischer Studien wie etwa der von Michael Persinger und seinem "Gotteshelm".

Die allein schon in ihrer Vielzahl beeindruckenden Beiträge, die Schnabel präsentiert, illustrieren das breite Spektrum wissenschaftsgeschichtlich aufgearbeiteter Glaubensforschung. Sie stimmen den Theologen nachdenklich, lassen den Wissenschaftler zweifeln, beeindrucken den Laien, sind jedoch immer ausgewogen und lassen den Leser teilhaben an einer faszinierenden Entdeckungsreise weit über die Grenzen eines starren Eurozentrismus hinweg hin zu den Glaubenspraktiken der Schamanen, den Weisheiten und Meditationsformen fernöstlicher Religionen und deren kurioser kultureller Adaption im Schmelztiegel der amerikanischen Gesellschaft. Dass Schnabel dabei den Schwerpunkt seiner Reflexionen auf das individuelle religiöse Erleben in den Bahnen von Mystik und Spiritualität setzt, bedingt einerseits eine Unterrepräsentierung theologischer Stimmen, erschließt aber zugleich die Möglichkeit eines multikulturell offenen Blicks über den Tellerrand der je eigenen Fachsimpelei.

In "Die Vermessung des Glaubens" findet der Leser Bedenkenswertes im unverbindlich vergnüglichen Plauderton eines Wissenschaftsjournalisten, der bereitwillig seine eigene Meinung zurücknimmt und in biographischen Darstellungen und Interviews andere Persönlichkeiten zu Wort kommen lässt, der von sich selbst und anderen, wie das letzte Kapitel "Darf über die Religion gelacht werden?" zeigt, einen demütig belächelnden Umgang mit vermeintlichen Wahrheitsansprüchen fordert und der letztlich mit Albert Einstein weiß: "Es lässt sich nicht sicher sagen, was Wahrheit ist. Aber manchmal ist es so einfach [und gleichsam vergnüglich], eine Lüge aufzudecken."

Michael Novian

Quelle: Eulenfisch Literatur 2 (2009), Heft 1, S. 18. [Literaturbeilage von Eulenfisch. Limburger Magazin für Religion und Bildung]