Kardinal Woelki will den Glauben wieder stärker in die Gesellschaft hinaustragen. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, über ihren Glauben Auskunft zu geben. Dazu brauchen sie religiöses Wissen, Entscheidungskompetenz und Erfahrung. Im Interview äußert er sich nun über die Herausforderungen, die sich dem katholischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in einer säkularen Gesellschaft stellen und spart auch heikle Themen nicht aus.
Sie haben in einem Interview gesagt, dass Ihnen daran liegt, „den Glauben wieder stärker in die Gesellschaft hinauszutragen.“ Wie Sie sicher wissen, bietet Nordrhein-Westfalen Religionsunterricht in sieben Bekenntnissen an. Was sind für Sie wichtige Inhalte und Ziele in einem modernen katholischen Religionsunterricht?
Das wichtigste, was der Religionsunterricht vermitteln kann, ist eine wertegebundene Orientierung inmitten der atemberaubenden Schnelllebigkeit und Unübersichtlichkeit, in der Kinder und Jugendliche heute aufwachsen. Schule muss für umfassende und mehrdimensionale Menschenbildung sorgen, und dabei hält der Religionsunterricht die entscheidende Stelle offen, die deutlich macht, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner wirtschaftlichen und pragmatischen Möglichkeiten. Denn egal was er leistet, weiß oder darstellt: Jeder Mensch ist bedingungslos von Gott geliebt.
Die Herausforderung ist, diese fundamentale Botschaft des Christentums unter den Bedingungen der Gegenwart neu zu buchstabieren und damit jungen Menschen Perspektiven für ein gelingendes Leben aufzuzeigen. Orientierung ist immer konkret. Deshalb steht im katholischen Religionsunterricht selbstverständlich die Wissensvermittlung über unseren Glauben an vorderster Stelle, gleichzeitig allerdings auch die Entwicklung einer religiösen Dialog- und Urteilsfähigkeit in einer zunehmend religiös und weltanschaulich heterogenen Welt.
Um aber in einem konkreten Glauben beheimatet zu sein und gleichzeitig auch entscheidungs- und auskunftsfähig zu werden, müssen Schülerinnen und Schüler darüber hinaus Formen gelebten Glaubens erfahren können, selbst wenn das in einem ordentlichen Unterrichtsfach sicherlich nur bedingt geleistet werden kann.
Diese Aufgabe weist weit über die Schule hinaus. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes jedenfalls schien eine religiöse Orientierung und eine - durchaus auch kritische - Auseinandersetzung mit religiösen Fragen in der Schule so wichtig zu sein, dass sie einzig dem Religionsunterricht Verfassungsrang gegeben haben. Das ist ein hoher Anspruch, dem sich dieses Fach auch unter den Bedingungen und Herausforderungen einer stark säkularisierten Gesellschaft stets neu zu stellen hat- um einer ganzheitlichen Bildung der Kinder und Jugendlichen willen.
Was sind für Sie als neuer Erzbischof von Köln besonders wichtige Inhalte, die Sie vertreten wollen und die dann auch Thema in unseren Schule sein sollten?
Es sind vor allem die diakonischen Aspekte unseres Glaubens, also das konkrete Handeln aus der Glaubensüberzeugung, dass Gott sich uns immer als erster zuwendet. Aus dieser Erfahrung, dass ich liebend angenommen bin, entspringt der Impuls, mich anderen zuzuwenden und sie anzunehmen, Teil dieser gemeinschaftsstiftenden Bewegung zu werden. Denn unser Glaube ist keine blutleere Doktrin, sondern er schafft Gemeinschaft, er ermutigt zur Verantwortung, er drängt zum Tätigwerden. Wir leben immer mehr in der einen Welt, die grenzenlos und vernetzt ist. Da kommt es entscheidend auf Austausch, Dialogfähigkeit und vorurteilsfreies Aufeinander-Zugehen an. Diese Dynamik steckt konstitutiv im christlichen Glauben. All die großen Themen wie Religionsfreiheit, Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität im globalen Zuschnitt wie auch im lokal-konkreten Kontext bedürfen zuerst der konkreten Einübung. Aktuell kann und muss sich das bei uns gerade in der Flüchtlingsfrage bewähren.
Wie in Berlin hat auch das Erzbistum Köln viele muslimische Mitbürgerinnen und -bürger. Nordrhein-Westfalen hat als erstes Bundesland den islamischen Religionsunterricht eingeführt. Wie stehen Sie zu diesem Angebot?
Es ist unbedingt zu begrüßen, dass alle Kinder und Jugendlichen im Sinne der angesprochenen Wissensvermittlung und Beheimatung einen Religionsunterricht in ihrer Konfession und Religion erhalten. In seiner rechtlichen Verfasstheit und mit seinen bildungstheoretischen Zielperspektiven muss dieser Unterricht den gleichen Ansprüchen genügen wie unser konfessioneller Religionsunterricht, also etwa selbstverständlich auf der Grundlage der Verfassung stehen.
Das Grundgesetz und auch die Landesverfassung legen das Recht auf bekenntnisorientierten Religionsunterricht fest. Angesichts von gewaltbereiten Salafisten und vielen Deutschen, die den Islam nicht als Teil westlicher Kultur akzeptieren wollen, scheint es wichtig zu sein, dass die Religionen voneinander lernen und miteinander im Dialog stehen. Wie könnte der Religionsunterricht einen solchen Dialog fördern?
Ein wichtiges Ziel heutigen Religionsunterrichts aller Konfessionen und Religionen muss sein, dass er nicht nur in den eigenen Glauben einführt, sondern wie gesagt auch zu einer differenzierten Dialog- und Urteilsfähigkeit qualifiziert. Das ist eine zentrale Grundlage und Voraussetzung für ein friedliches Miteinander der Religionen und Kulturen wie auch für einen wahrhaftigen interreligiösen Dialog. Dies kann in der Schule, angeleitet von erfahrenen Pädagoginnen und Pädagogen, in besonderer Weise eingeübt werden. Aber so wichtig das ist, darf dies nicht nur auf den Religionsunterricht beschränkt bleiben, auch um diesen nicht mit Erwartungen zu überfrachten. Das muss in allen Fächern thematisiert werden und darüber hinaus im gesamten Schulleben eine herausragende Rolle einnehmen. Denn Schule ist ja in gewisser Weise auch immer ein Abbild der Gesellschaft.
Sie gelten als reformorientierter modern denkender Kardinal, der dennoch die reine Lehre der katholischen Kirche vertritt. Ministerin Löhrmann hat soeben die Schirmherrschaft für das Projekt „Schule ohne Homophobie- Schule der Vielfalt“ übernommen. Kirche sollte nicht diskriminieren, sondern offen sein für alle Menschen – also auch für Lesben und Schwule. Stimmen Sie dem zu?
Voll und ganz. Genau so steht es auch im Katechismus.
In Niedersachsen und Baden-Württemberg gibt es Streit um das Thema „sexuelle Vielfalt“ im Unterricht. Eltern wehren sich gegen Aufklärungsunterricht. Wie bewerten Sie diese Debatten?
Der Aufklärungsunterricht ist ein wichtige schulische Aufgabe von der Primarstufe an. In vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Eltern sollen die Lehrerinnen und Lehrer wesentliche Inhalte auf einem jeweils altersgerechten Niveau vermitteln. Dabei es mir wichtig, dass Sexualerziehung den ganzen Menschen in den Blick nimmt und nicht auf eine einzelne menschliche Dimension reduziert. Als Kirche haben wir hier Wichtiges anzubieten, das zu einem gelingenden Leben beiträgt. Unsere Schulabteilung hat hier z.B. eine Arbeitshilfe für die Sexualerziehung an Grundschulen herausgebracht, der dieses ganzheitliche Menschenbild und die kostbare Mehrdimensionalität des Menschen zugrunde liegt.
Gibt es eine speziell katholische Erziehung? Wenn ja, was ist das?
Unter einer "speziell katholischen Erziehung" als einer Art Sonderform der Erziehung kann ich mir nichts Sinnvolles vorstellen. Sehr wohl aber gibt es eine katholisch motivierte und grundierte Erziehung. Dies meint eine Erziehung aus einem katholischen Geist, einer Haltung und Grundeinstellung. Dazu gehört etwa das Menschenbild, das den Menschen als geliebtes Geschöpf Gottes betrachtet, frei und verantwortlich für sich, seinen Mitmenschen, die Mitgeschöpfe und die Welt. Ein wichtiges Ziel katholischer Erziehung ist die unbedingte Achtung der Würde des von Gott geliebten Menschen - gerade des schutzlosen -, die sich dann auch in der konkreten schulischen Bildungs- und Erziehungsarbeit manifestiert. Nach katholischem Verständnis ist es zunächst die Pflicht und auch das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen. Auf den schulischen Bereich übertragen bedeutet dies, dass wir die Arbeit der Eltern wie der Lehrerinnen und Lehrer als eine Erziehungsgemeinschaft mit unterschiedlichen Aufgaben verstehen.
Veröffentlichung eines Auszugs aus einem Interview, das Dr. Sabine Braun-Bau im Mai 2015 führte. Mit freundlicher Genehmigung des Bildungsportal NRW. Quelle: www.schulministerium.nrw.de
Das vollständige Interview
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