Grundlage für ein friedliches Miteinander sind kollektive Erzählungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Diese These stellt der Theologe Frank van der Velden in seinem neuen Buch „Narrative religiöser Diversität aus dem Nahen Osten und Nordafrika“ auf, welches mit didaktischen Beispielen unterfüttert ist. Im Interview erklärt er, warum Migrationsgesellschaften gemeinsame Narrative brauchen und wie sich Lerngruppen im religionssensiblen Unterricht damit auseinandersetzen können.
Herr Dr. van der Velden, warum braucht die moderne Migrationsgesellschaft solche Narrative? Was macht die besondere Kraft der Erzählungen aus?
Van der Velden: Die Religionsgemeinschaften der Christen, Muslime, Juden, Jesiden, Drusen und anderer erzählen seit jeher in ihren je kulturspezifischen interreligiösen Narrativen vom friedvollen Zusammenleben. Doch die Wissensbestände zu solchen Narrativen aus den Kulturen der Herkunftsländer zugewanderter Menschen finden in der öffentlichen Diskussion in Deutschland bisher kaum Beachtung. Dabei ist die Integration dieser Narrative in die identitätsstiftendenden Erzählungen hierzulande von zentraler Bedeutung, denn wir leben in einer Migrationsgesellschaft. Stattdessen wird mancherorts gar eine Art Unvereinbarkeit von „orientalischen Lösungsansätzen“ für Themen in der westlichen, säkular geprägten Gesellschaft entgegengehalten. Die vorgelegte Arbeitshilfe soll dieser Distanzierung mit Substanz begegnen. Die besondere Kraft der kollektiven Selbsterzählungen liegt ja darin, dass sie die Möglichkeit eröffnen, im Erzählen alternative Rollenmuster und soziale Verhaltensweisen zu erproben und zu präsentieren. Narrative bieten Orientierung, die niederschwellig verfügbar ist.
Welches ist denn ein allgemein bekanntes Beispiel für ein Narrativ religiöser Diversität?
Van der Velden: Nehmen Sie z.B. die arabische Herrschaft über Andalusien: Mehr als 700 Jahre lebten dort Juden, Christen und Muslime überwiegend friedlich miteinander, Wissenschaft, Kunst und Architektur blühten. Viele Menschen, die aus dem Nahen Osten und Nordafrika nach Europa kommen, erzählen diese historische Episode heute noch weiter. Damit verbinden sie die Hoffnung, dass ihre Kulturen und Religionen als zugehörig zu Europa wahrgenommen werden. Und sie zeigen damit, dass sie von einem friedlichen Zusammenleben aller Menschen hier träumen und sich dafür einsetzen wollen.
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Nur damit das nicht missverstanden wird: Mit diesem Narrativ träumen diese Menschen nicht von einer erneuten „arabischen“ Herrschaft in Europa. Man kann dies ganz gut abgrenzen, wenn man sich die Weitergabe dieser Erzählungen z.B. in Internetforen anschaut. In meinem Buch zeige ich aber auch, wie extremistische Kreise manche andere Narrative vom friedlichen Zusammenleben zu kapern versuchen, indem sie diese verfälschen.
Handelt es sich bei den von Ihnen untersuchten Narrativen denn um tatsächliche Ereignisse, die historisch belegt sind?
Van der Velden: Natürlich dürfen solche Narrative nicht ohne eine kritische Prüfung benutzt werden, also ist ein Fakten-Check ist immer eine notwendige Voraussetzung. Auch wenn die arabische Herrschaft in Andalusien Andersgläubigen mehr Teilhabe bot als die anderen Reiche in Europa zur gleichen Zeit, so gab es doch auch dort Licht und Schatten. Das mittelalterliche feudale System in Andalusien kannte natürlich auch keine Gleichberechtigung aller Religionsangehörigen, wie wir sie in einem modernen demokratischen Staat erwarten.
Man muss aber immer auch beachten, dass solche traditionellen Narrative vor allem darüber etwas aussagen, wie die Menschen, die sie heute erzählen, sich selber sehen. Darin liegt ihr Wert, auch für ihren Einsatz in Schule oder Erwachsenenbildung – und nicht in der wissenschaftlich korrekten Wiedergabe historischer Fakten.
Konkret beleuchte ich in meiner Arbeitshilfe jeweils die historischen Rahmenbedingungen kritisch und ordne die belegbaren Fakten ein. Dabei werden weder die historischen Probleme zwischen den Religionsgemeinschaften ausgeblendet, noch werden die unsachgemäßen Stereotype bedient, die heute in Deutschland häufig die Sicht auf den Islam prägen. Mir geht es aber vor allem um das Selbstbild der Erzählerinnen und Erzähler, das in den Narrativen deutlich wird. Und damit arbeite ich dann in meinem Buch weiter.
Wie kann man Ihre Arbeitshilfe im religionssensiblen Unterricht einsetzen? Und was ist deren greifbarer Nutzen?
Van der Velden: Für die praktische pädagogische Arbeit in Schule, Erwachsenenbildung und Sozialer Arbeit gebe ich zu jedem Narrativ Impulse und stelle Materialien vor, die teils aus den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas selber stammen und die hier zum ersten Mal in deutscher Sprache präsentiert werden.
Eine Sensibilisierung für die Vielfalt religiöser Identitäten führt im Alltag zu souveränem Handeln der Menschen. Wir leben ja faktisch in einer Pluralität von Religionen. Es geht darum, diese Vielfalt sichtbar zu machen. Im Idealfall erlernen die Schüler*innen und Studierenden, die vorhandene Varianzbreite wahrzunehmen und miteinander in Beziehung setzen zu können. Dies trägt letztlich zu einem friedvolleren Miteinander entscheidend bei.
Das Interview führte Annette Krumpholz von der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Limburg
Zum Autor:
Frank van der Velden ist Lehrbeauftragter für Interreligiöses Lernen an der Fakultät für katholische Theologie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz sowie am Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften der Katholischen Hochschule Mainz. Der promovierte Theologe ist Bischöflicher Beauftragter für Islamfragen im Bistum Limburg und Studienleiter für Interreligiöses im Diözesanbildungswerk Limburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind religiöse Diversität und interreligiöses Lernen in der Migrationsgesellschaft, christlich-islamischer Dialog in Europa und im Nahen Osten. Als Theologe hat er fast zwanzig Jahre in Ägypten und Syrien gelebt.
Das Buch steht zum kostenfreien Download (open access) zur Verfügung:
Narrative religiöser Diversität aus dem Nahen Osten und Nordafrika
186 Seiten mit 3 Abbildungen, ISBN 978-3-7370-1444-1, V&R unipress
Diese Arbeitshilfe ist in der Folge eines Projekts der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) Hessen e.V. im Rahmen des hessischen Weiterbildungspaktes 2017–2020 entstanden.
(mam)