Leben und Denken eines Befreiungstheologen

Buchvorstellung - 28.07.2016


Leonardo Boff / Luigi Zoja
Die Wahrheit ist größer
Der Weg eines unbequemen Theologen


Ins Deutsche übersetzt von Bruno Kern
(topos taschenbücher)
Kevelaer: Butzon & Bercker 2016
144 Seiten, 9,95 €
ISBN 978-3-8367-1061-9


Leonardo Boff, lateinamerikanischer Theologe, Mitverfasser der Erd-Charta, Träger des alternativen Nobelpreises 2001, unterhält sich mit dem Psychoanalytiker Luigi Zoja über sein „bewegtes Leben und seinen Denkweg“.

Boff stammt, wie er gerne sagt, aus der „Jungsteinzeit“. Italienische Zuwanderer gründeten mitten im brasilianischen Wald Siedlungen, die sich inzwischen zu Städten entwickelt haben. Es ist eine regellose Welt, geprägt von Rassismus gegenüber den „Indigenas“, Brasiliens Ureinwohnern. Loja erzählt von jungen Siedlern, die zum Zeitvertreib mit ihren Flinten auf Indianerjagd gingen. Erst 1988, nach der Militärdiktatur, wurden die Indigenas durch eine neue Verfassung vor Landraub geschützt; aber Boff spricht von „Augenwischerei“, da immer noch viele legale und illegale Praktiken bestehen, den Indigenas ihre Gebiete abzunehmen, wenn sie wirtschaftlich interessant sind. Im zeitweise lebensgefährlichen Einsatz für die Rechte der brasilianischen Ureinwohner kommen Grundmotive des Lebens von Leonardo Boff und des vorliegenden Buches zum Ausdruck: Befreiung, Gerechtigkeit, Verbundenheit mit der (brasilianischen) Natur und der Kultur der Naturvölker.

Boffs Vater bejahte als Lehrer die pädagogischen Ideen Paolo Freires. Es war ein fortschrittliches und nicht besonders frommes Milieu, in dem Leonardo heranwuchs, und es war für ihn selbst überraschend, als er sich im Alter von elf Jahren dazu entschloss, zu den Franziskanern zu gehen; Priester werden war die einzige Möglichkeit gesellschaftlichen Aufstiegs für den ehrgeizigen Jungen. Über viele Stationen kam Boff mit 26 Jahren 1965 nach München um zu promovieren. Dort lernte er Karl Rahner, Albert Görres und Werner Heisenberg kennen, er liest das Gesamtwerk von Carl Gustav Jung. Die Verunsicherung durch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse wird zur Inspirationsquelle für die Dissertation: „Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung“. Joseph Ratzinger vermittelt einen Verlag und einen namhaften Druckkostenzuschuss. Über die Zusammenarbeit für die Zeitschrift Cummunio freunden sich die beiden Theologen etwas an.

1970 geht Boff zurück nach Brasilien und erkennt angesichts des Elends auf den Straßen, „dass wir eine neue Theologie brauchen.“ Zugleich wird ihm deutlich, dass er von der Militärdiktatur auch während seines Deutschlandaufenthaltes beobachtet worden war. 1971 erscheinen parallel Bücher von Gustave Gutierrez, Juan Luis Segundo und Leonardo Boff, die lateinamerikanische „Theologie der Befreiung“ findet weltweites Interesse. Die Aufmerksamkeit der Regierung allerdings zwingt Boff dazu, für eine Zeit unterzutauchen.

Das Buch „Die Kirche, Charisma und Macht“ von 1981 bringt Boff zusätzlich in Konflikt mit dem Papst und dem Vorsitzenden der Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger. Am 7. 9. 1984 ist Boff in Rom vorgeladen. Kardinal Lorscheider meint: „Man schlägt den Sack und meint den Esel“, nämlich den brasilianischen Episkopat. Auch nach dem einjährigen „Bußschweigen“, das Boff auferlegt war, versuchte Rom, seine Wirkungsmöglichkeiten einzuengen, wie überhaupt die politische Arbeit der Kirche zugunsten der Armen des Kontinentes durch Förderung des Opus Dei konterkariert wurde. 1992 verließ Boff deshalb den Franziskanerorden, ohne die Ideale des heiligen Franziskus aufzugeben, und erreichte damit wieder ein wenig Unabhängigkeit für seine Arbeit.

In den Jahren 1997 bis 2000 arbeitet Boff mit an der Endredaktion der Erd-Charta der UNESCO. Es geht darum, die Prinzipien für eine „gerechtere, friedlichere und nachhaltige Gesellschaft“ zu beschreiben. Es ist ein Papier ohne völkerrechtlich bindende Wirkung, doch spielt es in den Diskussionen, die unter anderem durch die Finanzkrise ausgelöst wurden, eine gewisse Rolle. Die letzten Seiten des Buches sind der Freude gewidmet, die Leonardo Boff wegen der Wahl Bergoglios zum Papst Franziskus empfindet: „Theologisch ist Papst Franziskus konservativ. Doch er öffnet die Tür für Diskussion.“ Deshalb hofft Boff, dass die Dokumentation der Befreiungstheologie, die 1984 gestoppt wurde, nunmehr wiederaufgenommen werden kann.


Karl Vörckel