Entwicklung des Wunderbegriffs im 20. Jahrhundert

Buchvorstellung - 14.10.2012

Alexander C. T. Geppert / Till Kössler (Hg.)
Wunder
Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert
(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1984)

Berlin: Suhrkamp 2011
ISBN: 978‐3‐518‐29584‐7
475 Seiten, € 16,00

Ein Sammelband zum Thema Wunder im 20. Jahrhundert, zu dessen Autoren kaum Theologen und Religionswissenschaftler, sondern vor allem Historiker gehören – eine interessante Konstellation, die auch den Theologen neugierig macht. Heißt es doch, das Wunder sei des Glaubens liebstes Kind. Ist aber das Wunder nicht in die Krise geraten – gerade auch im Bereich des Glaubens?

Das macht nicht zuletzt der Aufsatz von Ruben Zimmermann deutlich, der die Geschichte der hermeneutischen Herangehensweise an die Wunder Jesu im 19. und 20. Jahrhundert nachzeichnet; der kompakte Überblick zeigt, dass die Infragestellung der Historizität der neutestamentlichen Wunderberichte im Gefolge der Aufklärung die Exegese bis heute umtreibt. Insgesamt steht aber nicht die Krise des Wunders, sondern – ganz im Gegenteil – die ungebrochene Konjunktur des Wunderbegriffs im Fokus des Sammelbandes. Die 14 Beiträge wollen nicht zeigen, wie sich scheinbar Übernatürliches und Paranormales natürlich erklären lässt. Vielmehr ist die Herangehensweise grundlegend geschichtswissenschaftlich und auch sozialwissenschaftlich: Wie hat sich der Wunderbegriff – vornehmlich im 20. Jahrhundert – verbreitet, wie hat er sich entfaltet und entwickelt, in welchen zeitgenössischen und sozialen Kontexten findet er sich? Nach Meinung der Herausgeber bzw. der Autoren anscheinend besonders auch in der katholischen Kirche:

Neben den Ausführungen von Gabriela Signori, die die Geschichte des Heilungswunders im Christentum nachzeichnet, begeben sich gleich drei Aufsätze in die Glaubenswelten bestimmter konservativkatholischer Milieus und befassen sich mit einer weinenden Marienstatue in Syrakus, mit den Marienerscheinungen in Sievernich sowie mit dem italienischen „Superheiligen“ Pater Pio. Dabei gehen diese Aufsätze – wie auch sonst im Buch – immer auch übergreifende Fragestellungen an: in diesem Fall politische und kirchenpolitische Instrumentalisierungen von Wundern oder – gerade am Beispiel Pater Pios – die Bedeutung der Medien (von der Fotografie bis zur Boulevardpresse) für die Verbreitung des Wunders. Wenngleich der Begriff „Wunder“ untrennbar mit der religiösen Sphäre verbunden ist, so ist er doch auch in ganz anderen Bereichen zu Hause. So gehen weitere Beiträge auf die Wunder der Natur und der Technik ein, thematisieren aber auch die Bedeutung der Wunderrhetorik für die Politik: In der Sowjetunion z. B. waren die Wunder der wirtschaftlichen, technischen, politischen, sozialen etc. Errungenschaften mit Zukunftshoffnungen verbunden. Umgekehrt versuchte man unter kommunistischer Herrschaft aber auch, durch Vortragsreihen den religiösen Wunderglauben durch das Staunen über naturwissenschaftliche Phänomene zu ersetzen – ein Unternehmen mit zweifelhaftem Erfolg.

Wie andere Aufsätze zeigen – über Heilsversprechen in der Medizin des 20. Jahrhunderts oder über Wilhelm Reichs Orgonenergie, die auch heute noch in der Alternativmedizin eine Rolle spielt –, vermögen Wunder weiterhin zu begeistern. Besonders deutlich wird das in Tobias Beckers Beitrag zum Wundertheater und Theaterwunder des Stücks „The Miracle“, das zwischen 1911 bis 1932 gerade in nichtkatholischen Weltgegenden riesige Erfolge feierte – mit einer Geschichte, bei der eine Nonne und eine wundersame Marienstatue die Hauptrollen spielen; hier überlagern sich in hochspannender Weise die Sphären von Theater und Religion, von künstlerischer Inszenierung und göttlichem Eingreifen. Trotzdem, wie der Band aufzeigt: Die Verwendung des Wunderbegriffs muss nicht unbedingt etwas mit (religiösem) Glauben zu tun haben. Und umgekehrt schrecken viele in Theologie und Kirche vor einer unkontrollierten Wundergläubigkeit zurück. Doch zumindest im Modus des Staunens prägt der Wunderbegriff das 20. Jahrhundert – im Modus eines Staunens, das über das Alltägliche hinausweist, das der Entzauberung der Welt entgegentritt, das durchaus auch Zukunftshoffnungen transportiert und das so seine religiösen Konnotationen nicht zu leugnen vermag.

Fazit: Wer an einem spannenden Stück Kultur‐ und Sozialgeschichte sowie an der Fragestellung interessiert ist, wo christlicher Glaube an zeitgenössische Denkwelten anschlussfähig ist, dem sei dieser kurzweilig zu lesende Sammelband im Taschenbuchformat empfohlen.

Martin Hochholzer


Quelle: εύangel, Heft 3/2012


(BW)