Aussichten für Christentum und Kirche

Buchvorstellung - 13.10.2012

Hans Joas
Glaube als Option
Zukunftsmöglichkeiten des Christentums

Freiburg i.Br.: Herder 2012
ISBN: 978‐3‐451‐30537‐5
257 Seiten, € 19,99

Hans Joas, der langjährige Leiter des Max‐Weber‐Kollegs in Erfurt, legt mit diesem Buch eine Weiterführung seiner Überlegungen im Buch „Braucht der Mensch Religion?“ und gleichzeitig eine Synthese seiner Gedanken vor, die im öffentlichen Dialog und in vielen zu unterschiedlichen Anlässen gehaltenen Vorträgen entwickelt wurden. Dennoch ist dieses Buch kein „Sammelband“, sondern bietet dem Leser eine durchgängige Linie, der ihm eine Deutung der Erfahrung gestiegener Individualisierung des Glaubens und erweiterter Pluralität des Religiösen in der Gegenwart erlaubt.

Im Hintergrund steht an vielen Stellen die Auseinandersetzung Joas’ mit der so genannten Säkularisierungsthese, die das lineare, unumkehrbare und zwingende Verschwinden von Religion mit der Zunahme von Modernität in einer Gesellschaft erklärt. Dabei geht es Joas nicht darum, Prozesse der Säkularisierung zu ignorieren, sondern sie und auch religiöse Ausdruckformen in ihrer Vielfalt wahrzunehmen und so „nach alternativen Modellen für die Darstellung religiösen Wandels zu suchen“ (16). So wird das erste Kapitel zunächst zu einer Auseinandersetzung mit Vertretern der Säkularisierungsthese. Joas stellt die Vieldeutigkeit der Begrifflichkeiten von „Säkularisierung“, „Privatisierung“ und „Modernisierung“ vor Augen. Es geht ihm um eine angemessene Analyse der Dynamik religiöser Erfahrung und ihrer Deutung. Diese müssten aber als Einzelprozesse beschrieben werden und entziehen sich einer übergreifenden simplifizierenden Modellbildung. Die USA sind nach Joas ein Beweis dafür, dass religiöser Pluralismus die Vitalität des Religiösen unterstützen kann. Joas widerlegt weiterhin die kulturpessimistische These, dass der Glaube für die seelische Gesundheit des Einzelnen und für die gesellschaftlich‐moralische Motivation unentbehrlich sei. Allen glaubensapologetischen Unkenrufen, die mit Säkularisierungsprozessen den Verlust des Moralischen und des gesellschaftlichen Zusammenhalts gleichsetzen, gibt er den Abschied. Säkularisierungsprozesse näher in den Blick nehmend, zeichnet der Autor nach, dass sie in Europa nie ein linearer und kontinuierlicher Prozess gewesen sind.

Interessanter, als Säkularisierung als einfache Folge von Fortschritten und Wirtschaftswachstum zu behaupten, ist die inhaltliche Konzentration auf institutionelle Arrangements zwischen Staat, Wirtschaft und Religionsgemeinschaften. Es seien in Europa drei Wellen der Säkularisierung festzustellen, zunächst 1791 im Gefolge der Französischen Revolution, der es jedoch weniger um das Christentum selbst als vielmehr um die wirtschaftliche und politische Rolle der Kirche ging. Die zweite Welle habe mit den Industrialisierungs‐ und Urbanisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts zu tun, in denen die Kirchen in den anwachsenden Städten schlicht zu wenige Ressourcen verlagert bzw. aufgebaut hätten. Die dritte Welle, mit der die „Normalisierung der säkularen Option“ (Charles Taylor) einhergeht, geht auf die neuen Werte, Ideale und neuen Sakralisierungen der Jahre 1969–73 zurück. Joas legt jedoch keinen einheitlichen Prozess der Modernisierung zugrunde und weist darauf hin, dass die Geschichte der Säkularisierung immer auch eine Schuld‐ bzw. Unterlassungsgeschichte von Christen war. Versuche, Modernisierung im Rahmen der Kulturbedeutung des Protestantismus als „religiös begründete und geweihte Verselbständigung der nationalen Kulturen“, als religiösen „Individualismus der persönlichen Glaubensüberzeugung und die religiöse Heiligung der diesseitigen Weltarbeit“ (87) zu verstehen, entlarvt Joas als eine kulturprotestantische Meta‐ Erzählung. Es habe sowohl auf protestantischer wie auf katholischer Seite „Reformation“ als „Reform“ und somit Modernisierung gegeben.

Die Menschheit befindet sich nach Joas derzeit im Zeitalter der Kontingenz. Dies hat den Vorteil, dass monothematische oder epochenbruchorientierte Zeitdiagnosen zurückgewiesen werden können. Kontingenz ist die Zunahme der Optionen unseres Handelns und gleichzeitig Zunahme der Widerfahrnisse, die sich als Folgen daraus für den Menschen ergeben (121). Das Kontingente ist nicht „das Zufällige“, sondern das, was weder notwendig noch unmöglich ist. Für Joas erhebt sich in diesem Zusammenhang die Frage, „welche Wirkungen die Dauerkonfrontation mit religiös‐ weltanschaulicher Pluralität für die Chancen der Entstehung intensiver Wert‐ und Glaubensbindungen hat“ (122). Dabei zeigt sich der Sozialwissenschaftler überhaupt nicht skeptisch. Die Vermehrung der Optionen ist nur Gefahr für den, der sie als belastenden Zwang zur Entscheidung erlebt. Demgegenüber arbeitet Joas heraus, dass die gestiegenen Handlungsoptionen neue Formen und Anforderungen sozialen Lebens herausbilden. Die „entfallene“ Stabilität wird kompensiert durch höhere „dynamische“ Stabilität (140). Wie nun kann religiöse Vielfalt in einer pluralen Gesellschaft gelebt werden?

Die Pluralität auch religiöser und weltanschaulicher Entwürfe in positiver Weise zu gestalten setzt voraus, dass man Religionen „nicht als Wertsysteme oder als quasi‐wissenschaftliche Lehrgebäude, sondern als Versuche zur Auslegung menschlicher Erfahrung“ (153) wahrnimmt. Joas votiert in diesem Zusammenhang für eine gewisse Selbstrelativierung in Demut, der das Wort Gottes „nicht unvermittelter Selbstausdruck Gottes, sondern Wiedergabe der Mitteilungsabsicht Gottes im Bezugsrahmen der Empfänger“ (153) ist. Es gibt nach Joas auch in säkularer Situation vieles, an das das Christentum inhaltlich anknüpfen kann. Entscheidend für eine echte Auseinandersetzung zwischen Gläubigen und Nicht‐Gläubigen ist, dass der Glaube, die Wertbindungen und Weltdeutungen einen tatsächlichen Bezug zu konstitutiven Erfahrungen erhalten. Auf die Zukunft des Christentums befragt, verweist Joas auf die Herausbildung eines neuen überkonfessionellen Glaubensmilieus, das sich aus der Auflösung der traditionellen konfessionellen Milieus heraus entwickelt. Des Weiteren betont er die Bedeutung von „außerkirchlichen Formen religiöser Orientierungen“, die er „implizite Religion“ (191) nennt. Es sei analytisch zwar nicht hilfreich, den Begriff der Religion allzu weit auszudehnen, sodass alles darin Platz findet, es gibt jedoch vielfältige Formen von Werthaltungen und Praktiken, die für Betroffene „Letztbezug und Höchstrelevanz“ (Detlef Pollack) haben. Es darf daher keine Ignoranz oder Ablehnung gegenüber Formen und Bewegungen frei vagierender Religiosität wie der so genannten Kasualienfrömmigkeit geben. Die Zukunft des Christentums liege auch in der Gestaltung seiner sich andeutenden Globalisierung. Demgegenüber weist Joas die romantische These von dem homogen christlichen Abendland zurück. Der derzeitige Wandel bringt es mit sich, dass sich die Verbindung zwischen Glaube und homogenen sozialen Milieus lockert.

Der Glaube muss also in einer Situation der weltanschaulichen Konkurrenz neu angeeignet und neu artikuliert werden. Joas sieht das verfasste Christentum in Europa für diesen Prozess nicht schlecht aufgestellt, wenn es die sich bietenden Chancen proaktiv und kreativ nutzt. Insbesondere die Felder des Liebesgebots, eines neuen Einbringens der Personalität, die Wahrnehmung und Gestaltung von Spiritualität und Transzendenz sind für Joas die intellektuellen und lebenspraktischen Herausforderungen für das Christentum heute. Er prognostiziert, dass das Christentum nicht aus Europa verschwindet, jedoch muss es die Herausforderung der zunehmenden Pluralität und Heterogenität ergreifen und annehmen. Joas regt den Leser an, seine Zeitdiagnose und Weltwahrnehmung an den herkömmlichen Hypothesenbildungen zum Stellenwert des Religiösen in der Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft zu überprüfen. Die Stärke des Buches ist, in Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Theorieentwürfen viele „Selbstverständlichkeiten“ zu dekonstruieren. Auch für das Christentum, nicht nur in seiner kirchlich verfassten Form, sind seine Anregungen Gelegenheit, zunächst selbstkritisch die eigenen Perspektiven, Ziele und Praktiken zu überprüfen. Es ist einleuchtend, dass der Sozialwissenschaftler sich bei der Prognose der Aussichten für Christentum und Kirche große Zurückhaltung auferlegt. Joas hat mit seiner Diagnose Schneisen geschlagen, die nun pastoraltheologisch weiter zu illuminieren sind.

Hubertus Schönemann


Quelle: εύangel, Heft 3/2012


(BW)