Mark Juergensmeyer
Die Globalisierung religiöser Gewalt
Von christlichen Milizen bis al-Qaida
Hamburg: Hamburger Edition 2009
485 Seiten, € 35,00
ISBN: 978-3-86854-209-7
Mit Blick auf die Muslime findet in Deutschland derzeit eine Debatte über das Verhältnis von Religion, Gesellschaft und Staat statt. Das ist – auch wenn das den meisten Deutschen wohl nicht bewusst ist – eine exemplarische Debatte, denn auch in anderen Teilen der Welt und bezogen auf alle großen Religionen stellt sich die Frage, inwieweit Glaube das friedliche Zusammenleben der Menschen fördert oder behindert, inwieweit die Geltungsansprüche der Religionen sich in moderne Gesellschaften einfügen.
Drei Werke, die um diese Themen kreisen, seien vorgestellt: Ein durchaus erschreckendes Bild der Weltlage könnte man aus dem Mittelteil des Buches von Mark Juergensmeyer gewinnen. Der amerikanische Soziologe nimmt den Leser mit zu den „religiösen Aktivisten“ der verschiedensten Länder und Religionen: zu (ganz überwiegend) Männern, die mit Bezugnahme auf religiöskulturelle Traditionen gegen bestehende Strukturen und Machtverhältnisse, insbesondere gegen den säkularen Staat rebellieren. Natürlich nehmen Islamisten breiten Raum ein, aber der Autor stellt auch extremistische Buddhisten, militante Christen und Hinduisten und radikale Zionisten vor, deren aggressiver Rhetorik teilweise auch blutige Gewalt folgt. Juergensmeyer sieht hier im Kern einen Streit zwischen dem Säkularismus moderner Nationalstaaten und dem Verlangen nach einer von herkömmlicher Religion, Kultur und Moral geprägten Gesellschaftsform. Der Rückgriff auf die Religion hilft, soziale Konflikte, Marginalisierungserfahrungen, die Verunsicherung durch Moderne und Globalisierung etc. zu thematisieren: „Die Religion bietet immer die Möglichkeit, angesichts einer sozialen Realität, die allem Anschein nach Maß und Ziel verliert, über politische Tugend, kollektive Identität und die Ordnung der Welt nachzudenken“ (246). „In allen Fällen, die ich untersuchte, war die Religion die Ideologie, die zum Handeln und zum Protest befähigte“ (399). Damit wird Religion freilich zu einem Instrument in den Händen von Revolutionären. Das Gewaltpotential religiöser Aktivisten ist erschreckend; Religion „dient als Rechtfertigung für Gewalt, die das staatliche Monopol auf moralisch berechtigtes Töten in Frage stellt“ (401). Juergensmeyer weiß jedoch zu differenzieren: Als die hindunationalistische Partei BJP in Indien an die Macht kam, änderte sich erstaunlich wenig im Vergleich zur bisherigen Regierungspolitik; und sogar der Iran ist von seiner Staatsform her eine Demokratie. Problematisch ist aber das Verhältnis religiöser Politiker zu Minderheiten und individuellen Freiheitsrechten. Extremistisches religiöses Denken finden wir auch in Deutschland – nicht nur bei Muslimen, sondern ebenfalls bei Christen und anderen Gläubigen. Sie reiben sich an der liberalen Gesellschaft, fühlen sich teilweise davon regelrecht bedroht. Sicherlich ein Konfliktpotential. Freilich: „Religiöse Revolutionäre sehen sich als Akteure in einem kosmischen Kampf zwischen der alten Ordnung, die sie begraben wollen, und den neuen religiösen Nationen, die sie schaffen wollen, doch eine beträchtliche Anzahl von ihnen hält so hartnäckig an demokratischen Verfahren und an den Menschenrechten fest, dass das Gewaltpotential ihres Kampfes dadurch vermindert wird“ (354).
Einen anderen Blickwinkel bringt der Islamexperte Olivier Roy ein, der zwar seine Ausführungen nicht auf Fundamentalismus fokussiert, aber ein Erklärungsmodell für die missionarisch-fundamentalistischen Strömungen der Weltreligionen anbietet – und sich damit über sein eigentliches Arbeitsgebiet hinaus vorwagt. Religionen stehen in Beziehung zu Kulturen, sind oftmals scheinbar untrennbar mit einer bestimmten verbunden (z. B. der Hinduismus mit der indischen Kultur). Der „religiöse Marker“ kann sich aber vom „kulturellen Marker“ trennen. Das geschieht dann, wenn sich Menschen auf die Orthopraxie ihres Glaubens konzentrieren und die Kultur und damit auch die Volksfrömmigkeit als nicht rechtgläubig genug ablehnen: z. B., wenn der Salafismus einen Ur-Islam anstrebt, unberührt von späteren kulturellen Traditionen und Hinzufügungen. „Das Religiöse wendet sich gegen die Kultur der Umwelt, die nicht einfach nur als profan wahrgenommen wird, sondern, von den Pfingstlern genauso wie von Taliban und Wahhabiten, als heidnisch. Der Raum dazwischen, wo die Anpassung stattfinden könnte, verschwindet“ (27). Eine solche Religion hat in der heutigen globalisierten Welt deutliche Vorteile: Wer sich ihr anschließen will, muss nur religiöse Vorgaben übernehmen und sich nicht auch noch in die Herkunftskultur dieser Religion einfinden. „Der Fundamentalismus ist die am besten an die Globalisierung angepasste Form des Religiösen, weil er seine eigene Dekulturation akzeptiert und daraus seinen Anspruch auf Universalität ableitet“ (24). Das steht – so Roy – z. B. auch hinter dem Erfolg der Pfingstkirchen, die sich ungeheuer schnell ausbreiten Der Autor zeigt die derzeitigen Entwicklungen auf dem religiösen Markt anhand vieler Beispiele aus den verschiedensten Kulturen und Religionen auf und analysiert Zusammenhänge und Folgen, etwa die „heilige Einfalt“, die Vereinfachungs- und Uniformisierungstendenzen in diesen globalisierten Glaubenssystemen, die etwa einer Inkulturation und auch einem theologischen Durchdenken zuwiderlaufen. Andere Fragen – etwa die ebenfalls im Titel angedeuteten „politischen Gefahren entwurzelter Religionen“ – bleiben offen: so auch die Frage, wie ein Glaube wie der vom 2. Vatikanischen Konzil geprägte Katholizismus, der Inkulturation und gesellschaftliche Verantwortung der Christen hervorhebt, mit diesen Entwicklungen umgehen muss. Insgesamt ist das Buch mehr ein Essay, der zum Nachdenken anregt; und dazu gibt Roy wirklich zahlreiche Impulse, durch seine Ausführungen über den Katholizismus gerade auch für eine missionarische Pastoral, die das Evangelium in der heutigen Kultur zur Sprache kommen lassen will.
Das Buch des bekannten Religionssoziologen Peter L. Berger und des Kultursoziologen Anton Zijderveld schließlich ist ein Plädoyer für die liberale Demokratie und eine „Kultur der Mäßigung“ – gegen Relativismus gleicherweise wie gegen Fundamentalismus. Der Relativismus – die Vorstellung, es gebe keine allgemeingültigen Wahrheiten – ist nach Ansicht der Autoren „politisch gefährlich“: „Ohne einige gemeinsame Werte kann eine Gesellschaft nicht zusammenhalten“ (80); einer solchen Gesellschaft „fehlt der Wille, sich gegen ganz reale Gefährdungen ihrer bloßen Existenz zu verteidigen“ (81). Genauso lehnen sie aber den Fundamentalismus ab und plädieren für eine „mittlere Position“, „die auf gleicher Distanz zum Relativismus und Fundamentalismus bleibt“ (101). An Beispielen aus Politik, Religion etc. zeigen sie, dass daran der Unterschied zwischen Fanatismus und Freiheit hängt: „Tatsächlich ist der Zweifel das Kennzeichen der Demokratie“ (127). In ihrem „Lob des Zweifels“ – so lautet ja auch der Titel des Buches – übersehen die Autoren die Gefahren des Zweifels nicht (Zynismus, Unterhöhlung der Grundlagen der Gesellschaft). Weiterhin sehen sie moralische Grenzen des Zweifels: „Wir haben festgestellt, dass das Verbot, grundlegende Menschenrechte zu verletzen, über jeden Zweifel erhaben ist“ (158).
Die Werke von Juergensmeyer und Roy lassen die Sorge aufkommen, ob wir nicht in einer Welt leben, in der Stück für Stück Fundamentalismus und Radikalismus die Oberhand gewinnen gegenüber einer gemäßigten und differenzierten Sicht der Wirklichkeit, wie sie etwa auch das 2. Vatikanische Konzil einfordert. Berger und Zijderveld zeigen hier, dass man trotz aller Zweifel mit guten Gründen und mit Leidenschaft für eine „Politik der Mäßigung“ eintreten kann. Das gilt gerade auch für den Bereich der Religion. Auch wenn Roy und Juergensmeyer v. a die problematischen und gefährlichen Seiten von Religionen in den Blick nehmen, so leugnen sie damit nicht die andere, die kultur- und gemeinschaftsschaffende Seite von Religionen. So schließt Juergensmeyer seine Ausführungen auch mit den Worten: „Das Wiederaufleben toleranter Formen der Religion könnte deshalb eines der Heilmittel für ihre rebellischen und intoleranten Extreme sein“ (412). Damit sind wir bei einer fundamentalen Frage für missionarische Pastoral: Was hat Religion, speziell der christliche Glaube, für ein friedliches und gutes Zusammenleben der Menschen anzubieten? Insbesondere stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Glaube einerseits und säkularer, liberaler Demokratie, Gesellschaft und Kultur andererseits. Die drei Bücher liefern keine fertigen Konzepte dafür. Sie bieten aber hilfreiche Analysen der Gegenwart, legen den Finger in Wunden unserer Zeit und Gesellschaft.
Martin Hochholzer
Quelle: ɛὐangel, Heft 2/2010
(BW)
Hier auch besprochen:
Peter L. Berger / Anton C. Zijderveld
Lob des Zweifels
Was ein überzeugender Glaube braucht
Freiburg im Breisgau: Kreuz 2010
180 Seiten, € 16,95.
ISBN: 978-3-7831-3461-2
Olivier Roy
Heilige Einfalt
Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen
München: Siedler 2010
335 Seiten, € 22,95
ISBN: 978-3-88680-933-2