Kirchen mit allen Sinnen erleben

Buchvorstellung - 23.07.2012

Albert Gerhards
Wo Gott und Welt sich begegnen
Kirchenräume verstehen

Kevelar: Butzon & Bercker. 2011
200 Seiten m. s-w Abb. 19,95 €
ISBN 978-3-7666-1545-9

Kirchengebäude haben eine Aura, die weit über den Kreis der regelmäßigen Kirchenbesucher hinaus strahlt und fasziniert. Der Bonner Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards erschließt mit seinem Buch diese Aura. Kirchen sind Botschaften, die nicht nur gelesen, sondern mit allen Sinnen erlebt werden.

Dass Kirchengebäude mehr sind als kunsthistorische Zeugnisse, aber auch mehr als Versammlungsräume für den Sonntagsgottesdienst, wird spätestens dann deutlich, wenn neben der Kirche eine Moschee entstehen soll oder wenn eine Kirche außer Dienst gestellt oder gar abgerissen werden soll. Besonders die Konkurrenzsituation im Blick auf viele religiöse und spirituelle Angebote innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft lädt dazu ein, den Sinn und Wert von Kirchengebäuden neu zu verstehen und spirituell interessierten Zeitgenossen zu vermitteln. Dazu bedarf es der grundsätzlichen Offenheit und Gastfreundschaft, aber auch der Kenntnis und Sprachfähigkeit. Letztere vermittelt das vorliegende Buch. Es empfiehlt sich nicht nur Kirchenführern, die einen geistlich-theologischen Anspruch an ihre Arbeit stellen. Auch Religionslehrer und Katecheten finden einen verständlichen und prägnanten Zugang zur Symbolik und Funktionenvielfalt der Kirchengebäude.

Ein Buch, das Kirchenräume grundsätzlich verständlich machen will, muss sich über die aktuell gültigen Moden erheben. Der Leitgedanke des Buches bildet eine starke Verbindung zwischen Theologie und Anthropologie: Kirchenräume sind Begegnungsräume mit Gott, mit den Mitmenschen, mit sich selbst. Im ersten der beiden Teile des Buches legt der Autor dafür die Grundlagen. Die ganz unterschiedlichen Funktionen von Kirchengebäuden, die Ästhetik und die Theologie des Sakralen, das Zusammenspiel von Liturgie und kirchenbaulichen Konzepten, die Gestaltungsfaktoren Licht und Weg und schließlich die unterschiedlichen theologischen Entfaltungen der Christusbegegnung, um die es in der Liturgie immer geht, und ihr Einflüsse auf die Ausrichtung von Raum und Bestuhlung einer Kirche werden erläutert. Dabei kommt die Rolle des Priesters durchaus differenziert in den Blick: Er ist selbst Hörender, aber auch Verkünder; Mitglied des Volkes Gottes, aber steht ihm auch vor; er betet stellvertretend für die Gemeinde, aber auch zusammen mit der Gemeinde zu Gott; er führt die Gemeinde, aber repräsentiert für sie auch Christus. Wenn der Priester während der Eucharistiefeier ausschließlich der Gemeinde gegenübersteht, kommt diese Vielfalt nicht zum Ausdruck. Dies erklärt der Autor plausibel und, im Blick auf die ausgeübte Praxis, kritisch. Er orientiert sich dabei vor allem an Romano Guardini und dem Kirchenarchitekten Rudolf Schwarz.

Den zweiten Teil des Buches bildet eine imaginäre Kirchenführung. Diese beginnt außen: Turm und Geläut, Kirchweg und Kirchplatz sind Faktoren, die mit prägend sind für die Bedeutung des Gebäudes. Die theologischen Ideen, die dem Eingangsbereich, den Stufen und der Tür Form und Gestalt geben, werden entfaltet. Die unterschiedlichen Funktionen der Gottesdienstteilnehmer in der Liturgie finden ihren Ausdruck in der Anordnung ihrer Plätze innerhalb des Kirchenraumes. Die Symbolik, die sich im Laufe der Geschichte um die Taufstelle entfaltet hat, wird dargelegt. Bedacht wird auch der Ort der Versöhnung, wo die Beichte gespendet wird. Mit der variantenreichen Geschichte der Wortverkündigung innerhalb der christlichen Liturgie und der langen Zeit von 400 Jahren, in der dies einfach vom Altar aus geschah, erklärt der Autor die mitunter unbefriedigende Umsetzung der Vorgabe des II. Vatikanischen Konzils, dass der Ambo als „Tisch des Wortes“ wieder einzuführen sei.

Eindrücklich entfaltet der Autor die theologische Bedeutung des Altars. Ausgehend von den Bewegungen der Eucharistiefeier im Bezug auf die Gaben: zum Zentrum hin (Gabenprozession), von oben nach unten (Ablegen der Gaben, Herabrufung des Geistes), von unten nach oben (Lobpreis am Ende des Kanons), vom Zentrum nach außen (Kommunion) erschließt er seine Bedeutung. So wird deutlich, dass es um ein Kultmahl geht, in dem Leiden und Auferstehung Christi gefeiert werden. Der Aufbewahrungsort für die Eucharistie und die Funktion von Bildern und Zeichen werden im Folgenden erläutert. Das Kapitel über Klang und Musik entfaltet die theologische Legitimation der Instrumentalmusik in der Liturgie, die keinesfalls immer gegeben war.

Auch das Diakonische, die konkrete Lebenshilfe, ist im Kirchenraum gegenwärtig. Dies wird aus dem Symbolwert der Gestaltungselemente wie Taufbrunnen, Altar und Priestersitz erschlossen. Gleichzeitig bildet die diakonische Dimension des Kirchenraums die Überleitung zur Auseinandersetzung mit der Umwidmung von Kirchengebäuden. Damit entsteht die Frage nach einer angemessenen alternativen Nutzung. Gerhards erarbeitet sehr konkrete und konstruktive Vorschläge: Kirchenräume empfehlen sich, ohne ihre Identität als Sakralräume dabei zu verlieren, für private Frömmigkeit, für die Entwicklung neuer, niederschwelliger Gottesdienstformen in Verbindung mit Musik, Theater und bildender Kunst. Ebenso erinnert der Autor an die traditionell verbürgte Verbindung von Kirchengebäuden und Friedhofskultur. Das Buch kommt angesichts anstehender Entscheidungen über die Umwidmung von Kirchen nicht zu früh. Wenn die reiche Bebilderung des Buches von besserer fotographischer Qualität wäre, hätte das Buch eine noch größere Inspirationskraft.

Theo Hipp

Quelle: Eulenfisch Literatur 5 (2012), Heft 1, S. 14f.