Frank Crüsemann
Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen
Die neue Sicht der christlichen Bibel
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2011
384 Seiten m. 6 farb. Abb. , 29,95 €
ISBN 978-3-597-08122-9
Es gibt nur wenige theologische Bücher, deren Kernthese einen solchen „Sprengsatz” beinhaltet, dass sie, würde man diese ernst nehmen, gewaltige Konsequenzen für die christliche Theologie als Ganze nach sich ziehen würde. Eine solche hält ohne Zweifel das neue Buch von Frank Crüsemann, einem der renommiertesten evangelischen Alttestamentler in Deutschland, bereit.
Crüsemann stellt in seinem Buch nicht nur christliche Praktiken im Umgang des Alten mit dem Neuen Testament auf den Prüfstand, sondern zeigt zudem einen neuen Ansatz auf. So demonstriert er, wie sehr unserheutiger Blick auf das Neue Testament und damit auch auf Jesus von dogmatischen Entwicklungen geprägt ist, die teilweise den Blick auf biblische Texte verstellen und bestimmte Sichtweisen nicht zulassen.
Speziell formuliert der Verfasser hier den Aspekt, dass auch Jesus selbst sich unter die Tora gestellt hat und ebenso Paulus seine Gemeinde ermahnt, „nicht über das, was in der Schrift steht, hinauszugehen“(1 Kor 4,6). Das hieße nun aber, dass „die Schrift“, die in christlicher Tradition zum „Alten Testament“ geworden ist, bereits die ganze Wahrheit Gottes enthält und nicht etwa ihre „Wahrheit“ erst durch denBlick vom Neuen Testament her offenbart. Mit dieser These wird das Alte Testament als „Wahrheitsraum” erschlossen, von dem das Neue Testament und damit auch der christliche Glaube abhängt. Der Beschreibungdes Verhältnisses als eine Überlegenheit des Neuen gegenüber dem Alten Testament und den Aussagen, der Glauben der Christinnen und Christen begründet sich allein oder in erster Linie im Evangelium von Jesus,wird damit jeglicher Boden entzogen. So formuliert Crüsemann seine Kernthese: „Das Alte Testament muss für ChristInnen und die christliche Theologie, ja letztlich für den christlichen Glauben denselbentheologischen Rang haben, den es im Neuen Testament hat, den es also für Jesus und für die Verfasser und Verfasserinnen der (meisten) neutestamentlichen Schriften hat.”
Bevor Crüsemann diesen Ansatz aus dem Neuen Testament heraus selbst zu begründen und zu bestätigen sucht, führt er zunächst durch verschiedene Modelle der Zuordnungen von Altem und Neuem Testament, die alle von einer Überordnung des Neuen über das Alte Testament ausgehen (Kap. 1). Gleiches unternimmt er auch für die bisher vorgelegten Versuche einer biblischen Theologie (Kap. 2), um anschließend dieNotwendigkeit einer neuen Sichtweise hinsichtlich des Verhältnisses zum Judentum zu begründen (Kap. 3).
Die Untersuchung des Schriftverständnisses, welches dem Neuen Testament zugrunde liegt, bildet einen weiteren Teil. So zeigt der Verfasser eindrucksvoll auf, dass in allen neutestamentlichen Schriften das„Alte Testament” als vorgegebene „heilige Schrift” anerkannt wird und Autorität besitzt. Das Neue Testament weist nicht nur eine Vielzahl von intertextuellen Bezügen zur Schrift auf, vielmehr ist es auch nurmit Blick auf die Schrift verständlich (Kap. 4, S. 93-151).
Unter der Fragestellung „Was ist das Neue im Neuen Testament?” steht das 5. Kapitel des Buches. Dies ist nach Crüsemann „die Tatsache, dass ein grosser Teil der neutestamentlichen Aussagen über das Neue aus dem Alten Testament stammt“. Mit anderen Worten: Das, was im NeuenTestament als neu bezeichnet wird, ist das, was bereits in der Schrift als neu bezeichnet und erwartet wird. In einem weiteren Schritt fragt Crüsemann nun nach dem daraus resultierenden Verhältnis zwischendem Gott Israels, der Völker und der Kirche und stellt dabei die Bedeutung der Tora sowohl für den christlichen Glauben selber als auch für die christlichen Kirchen heraus (Kap. 6). Das Verhältnis der Messianität Jesu zur jüdischen Bibel wird in einem weiteren Schritt thematisiert. Die Frage, ob es sich um eine „Erfüllung” oder um eine „Bestätigung” der Schrift handelt, beantwortetCrüsemann dahingehend, dass die Rede von einer Erfüllung eine “vollmächtige Inkraftsetzung der Schrift” bedeutet (Kap. 7). Anschließend zeigt er dies am Beispiel des Themas „Auferstehung” auf (Kap. 8) unduntersucht die Erhöhungs- und Prädestinationsaussagen des Neuen Testaments auf ihren Bezug zur Schrift hin (Kap. 9). Das Schlusskapitel steht unter der Überschrift: „Der Wahrheitsraum der Schrift und dasneutestamentliche ,Jetzt’ des Heils“ (Kap. 10). Resümierend stellt F. Crüsemann dar, dass der messianische Glaube an Jesus Christus nicht anders aussieht als die in der Schrift bereits niedergelegtemessianische Hoffnung des Judentums: „Christus ist zur Rechten Gottes, und die Feinde sind noch nicht unterworfen, das Stöhnen der Schöpfung bezeugt es. Was gegenwärtig ist, ist der Geist, und der hat dieGestalt der Hoffnung, ist nichts anderes als die Kraft der Hoffnung“. Und gerade hierin zeige sich, dass das Christentum die gleiche Blickrichtung wie das Judentum hat.
Gleichwohl sich dieses Buch in erster Linie wohl an ein Fachpublikum richtet, beinhaltet es sehr viele Denkanstöße, die auch für „Laien“ verständlich und nachvollziehbar sind. Es ist zu hoffen, dass diesesBuch seinen Eingang in die Bücherregale Vieler findet und nicht nur im Kreis von Theologen diskutiert wird.
Annett Glercke-Ungerman
Quelle: Eulenfisch Literatur 5 (2012), Heft 1, S. 4f.