Géraldine Elschner
mit Bildern von Giotto
Die Weihnachtsgeschichte
Bargteheide: Minedition 2011
32 Seiten
ISBN 978-3-86566-141-8
Es ist ein ungewöhnliches Weihnachtsbuch: ein auf die wesentlichsten Aussagen des Lukas- und Matthäusevangeliums reduzierter Text, bebildert mit Ausschnitten der Fresken von Giotto di Bondone (1266-1337) aus der Cappella degli Scrovegni in Padua (vgl. S. 4).
Ist es nun ein Buch für Kinder oder für Erwachsene? Das kommt auf die Sichtweise an. Die Texte sind für Kinder gut verständlich und sprachlich einfühlsam. Sie lassen das Geheimnis der Weihnacht aufscheinen. Ein Detail überrascht allerdings: Als Elisabeth, die Base Mariens, ihren Sohn gebar, gab sie ihm wohl den Namen „Johannes“, aber noch ohne den Beinahmen „der Täufer“.
Weitaus überraschender hingegen ist die Bebilderung. Schon auf den ersten Blick kommen Kunstkennern die Darstellungen bekannt vor. Nach kurzem Überlegen wird klar: Die Fresken von Giotto, die den harmonisierten Evangelientexten von Lukas und Matthäus zur Seite gestellt werden, stellen gerade keine Szenen dieser biblischen Texte dar. Sie sind bildliche Darstellungen des Protoevangeliums des Jakobus. Dieses nicht in die Bibel aufgenommene Evangelium, das zu den neutestamentlichen Apokryphen zählt, hat das Leben Mariens zum Inhalt. Es beginnt mit der ungewollten Kinderlosigkeit ihrer Eltern Joachim und Anna und endet mit dem Kindermord in Bethlehem, dem auch Zacharias, der Vater des Johannes (des späteren Täufers) zum Opfer fällt, weil er den Aufenthaltsort seines Sohnes nicht preisgeben will.
Wie sind die Bilder dieses sehr bekannten Marienzyklus nun verwendet worden? Die Bildausschnitte auf den Seiten 5 und 17 gehören zur Darstellung der Botschaft des Engels an Joachim (des Vaters Mariens). Wo im Text (S. 12) die Rede vom Weg Josefs und Mariens nach Bethlehem ist, stellt die Illustration (S. 13) die Übergabe von Maria an Josef durch ihren Vater Joachim dar, die sogenannte Vermählung Mariens. Aus diesem Grund sind auch viele Menschen zugegen, die dieser Zuführung beiwohnen. Rechts im Bild sind die sechs Jungfrauen, die ebenfalls im Haus des Josef (nach der Legende) Aufnahme fanden.
Die Verkündigung (S. 6 und 9) ist ebenfalls diesem Bilderzyklus entnommen. Auffällig ist, dass Maria kein blaues Gewand trägt (wie in diesem Buch nur auf den Seiten 11 und 15 [Auflösung siehe unten]) sondern ein rotes. Das Jakobus-Evangelium gibt auch hier Aufschluss. Maria hat sich danach auf Anweisung der Priester ein Gewand aus Purpur und Scharlach gefertigt.
An der Stelle, wo der der biblische Bericht über die Hirten an der Krippe steht (S. 18), wird für das Bild (S. 19) die Geburtsszene übernommen (hier wie bei andern Bildern ist das rote Kleid in späterer Zeit blau übermalt worden) – die genannten Hirten, die auf dem Original auch zu sehen sind, fehlen aber beim Bildausschnitt. Die im Protoevangelium des Jacobus genannte Hebamme Salome ist stattdessen gut zu sehen. Josef, der hier unbeteiligt am Boden sitzt, kehrt im Bildausschnitt auf S. 23 noch einmal großformatig wieder – allerdings im Zusammenhang mit dem Traum, in dem ihm ein Engel bedeutet, mit seiner Familie nach Ägypten zu fliehen. Bei der Textstelle, die die davon spricht, dass Herodes den neuen König suchen ließ, ist hingegen der Kindermord in Bethlehem dargestellt (S. 25).
Nur die Bilder auf den Seiten 11 (Maria und Elisabeth) sowie 15 (Geburt Jesu) stammen nicht aus Padua sondern aus der Unterkirche S. Francesco in Assisi. Im Bilderverzeichnis sind wohl die Rechteinhaber genannt, nicht aber der Auffindungsort. Es sind die beiden einzigen Bilder, auf denen Maria in blaue Kleider gewandet ist.
Eignet sich das Buch für den Religionsunterricht? Unkritisch sicherlich nicht. Will man mit Schülerinnen und Schülern höherer Klassenstufen am Thema Bibelkanon und Apokryphen arbeiten, so kann dieses vorliegende Bilderrätsel hilfreiche Dienste leisten. Da Giotto textgetreu das Jacobus-Evangelium ins Bild gesetzt hat, lassen sich die oben getroffenen Feststellungen auch von Jugendlichen herausarbeiten. Es ist eben schon ein ungewöhnliches Weihnachtsbuch.
Barbara Wieland