Karl Iosifowitsch Epstein
Weihnachten 1942
Ein jüdischer Junge überlebt deutsche Massaker in der Ukraine und erlebt als ukrainischer "Ostarbeiter" eine deutsche Weihnacht in Berlin
Aus dem Russischen von Gabriele Pässler, hg. von Erhard Roy Wiehn
Konstanz: Hartung-Gorre Verlag 2011
78 Seiten
ISBN 978-3-86628-3
Die Lebensgeschichte von Karl Epstein beginnt in 1930 in Krementschug in der Nähe von Kiew in der Ukraine. Er wurde in eine Familie jüdischen Glaubens mit aktiver kommunistischer Überzeugung hineingeboren, die bereits unter den stalinistischen „Säuberungen“ 1937 schwer gelitten hatte. Eine schreckliche Wende nimmt sein Lebensweg am 22. Juni 1941, als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel.
War schon das Kriegsgeschehen grausam, so war das Vorgehen der auf sie folgenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD (= Sicherheitsdienst des Reichsführers der SS) ungleich furchtbarer. Ihre Aufgabe bestand unter anderem darin, die gesamte jüdische Bevölkerung direkt vor Ort zu ermorden. Das Töten begann unmittelbar im Sommer 1941. Viele Dörfer wurden bis auf den heutigen Tag vollständig ausgelöscht. Heute ist weiteren interessierten Kreisen das Massaker von Babij Jar bekannt, wo am 29. und 30. September 1941 33.771 Juden erschossen wurden, Männer, Frauen und Kinder. Bis 1944 starben bei Pogromen ca. 1,4 Millionen der ca. 2 Millionen ukrainischer Juden. Aus der Ukraine wurden von der restlichen Bevölkerung etwa 2,2 Millionen Menschen als sogenannte Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter zur Arbeit ins Deutsche Reich deportiert.
Am 11. Juli 1941 besetzten deutsche Truppen die südwestukrainische Kleinstadt Dunajewtsi (Dunaivsti), in der Karl Epstein mit seiner Familie und weiteren ca. 5.000 Juden lebte. Auf an Wunder grenzende Weise überlebte er das Pogrom am 8. Mai 1942, bei dem alleine 2.500 Juden durch das Begraben bei lebendigem Leib in einer Phosphatmine ermordet wurden. Unter Aufbietung der letzten Lebenskräfte überstand er die Zeit im örtlichen Ghetto und floh am 18. Oktober 1942, kurz bevor das das Lager liquidiert werden sollte. Seine Mutter und Schwestern blieben zurück.
Ihm gelang es, die Identität eines etwas älteren russischen nichtjüdischen Jungen anzunehmen und mit einem Ostarbeitertransport nach Berlin zu reisen. Er wurde der Firma Riedel, einem Chemieunternehmen, zugewiesen und lebte in einem Ostarbeiterlager. Bis zu diesem Zeitpunkt war er dem sicheren Tod mehrfach entkommen, durch eigenes Geschick, vor allem aber auch durch den Mut von Menschen, die sich seiner annahmen. Karl Epstein lebte die gesamte Zeit in Angst vor der Aufdeckung seiner eigentlichen Identität und damit seiner Religionszugehörigkeit.
Trotz dieser fatalen Situation fasste er Vertrauen zu Deutschen, mit denen er arbeitete. Es scheint, als mochten sie den schmächtigen Buben, der kaum eine vollwertige Arbeitskraft sein konnte. Ob sie Anhänger von Adolf Hitler waren – Karl Epstein erfuhr es nie, wohl aber, dass sie den Krieg vollständig ablehnten. Er konnte den Gesprächen der Deutschen gut folgen, denn seine Muttersprache, die er in Deutschland niemals verwenden durfte, war das Jiddische. Es nahte das Weihnachtsfest 1942 – ein Fest das der Junge bis dahin nicht kannte. „Sein Deutscher“, der Arbeiter, dem er zugeteilt war, erwies sich als ein äußerst mutiger Mann. Er brachte schöne Kleidung für den Zwölfjährigen mit und nahm ihn für zwei Tage zu sich nach Hause mit, um ihm in seiner Familie ein Weihnachtsfest zu bereiten. Das Ostarbeiterzeichen trug er nicht und aufgrund der Kleidung unterschied er sich von deutschen Jungen nicht. Das Ehepaar behandelte ihn wie einen lieben Gast. Selbst die eingeladene Verwandtschaft, darunter ein Offizier der Deutschen Wehrmacht, die an den Endsieg glaubte, verriet die Anwesenheit des Jungen keiner offiziellen Stelle. Karl nahm das Weihnachtsfest – was seine Gastgeber nicht ahnen konnten – innerlich sehr stark mit. In den Enkelkindern des Arbeiters sah er die ermordeten Kinder von Dunajewtsi. Immer und immer wieder fragte er sich angesichts dieser schönen Feier und der freundlichen Menschen, warum Deutsche Juden umbrachten: Seine eigene Mutter, seine Schwester Rosa, sein Schwesterchen Schenja. Innerlich war er völlig zerrissen.
Und doch, der deutsche Arbeiter hat durch sein gegen alle geltenden Vorschriften gerichtetes Handeln Menschlichkeit in das Leben von Karl Epstein gebracht. Vielleicht waren diese beiden Tage und die im Haus der Deutschen verbrachte Nacht für ihn jene Kraftquelle, die er benötigte, um weitere drei Jahre der Kindheit und Jugend in Zwangsarbeit zu überleben und den Glauben an einen Rest des Guten im Menschen nicht zu verlieren. Seine verschriftlichten Kriegserzählungen enden mit dem Weihnachtsfest 1942. Danach durchlitt er noch Zeiten im Gefängnis in Moabit wegen angeblicher Sabotage und nachdem man ihn nach der Flucht bei einer Razzia aufgriff. Bei Kriegsende war Karl Epstein 15 Jahre alt und wog 24 Kilogramm.
Wer selber im Kontakt mit ehemaligen Ostarbeitern steht, wer ihre noch heute Grauen erregenden Kriegserinnerungen hören musste (und hören durfte), weiß diese niedergeschriebene Lebenserzählung ganz hoch zu schätzen. Es ist das Erleben eines Kindes, das dem Alter nach zum Jugendlichen wurde, dabei aber lange schon wie ein Erwachsener denken und handeln musste. Für Jugendliche heute kann dieser Lebensbericht z.B. für eine Facharbeit mit Unterstützung durch geeignete begleitende Lektüre und Gesprächspartner einen wirklichen Zugang zum Thema Nationalsozialismus und Krieg ermöglichen. Die Frage nach der Motivation des Deutschen, das Kind mitzunehmen, ihm Herberge zu bieten, gerade an dem Tag, der sonst nur der eigenen Familie gewidmet ist, wird sich auch dann noch einmal neu stellen.
„Weihnachten 1942“ ist beeindruckendes Buch, das einen wirklich interessierten Leserkreis verdient.
Barbara Wieland