Die syrischen und orientalischen Kirchen

Buchvorstellung - 31.10.2011

Philip Jenkins
Das goldene Zeitalter des Christentums
Die vergessene Geschichte der größten Weltreligion

Freiburg u.a.: Verlag Herder. 2010
379 Seiten 24,95 €
ISBN 978-3-451-30276-3

Wir brauchen eine Theologie des Untergangs, so der Religionswissenschaftler Philip Jenkins. Denn das Sterben von Kirchen und Religionen sei eine Tatsache der Geschichte. Unbefriedigende Erklärungen würden hierfür Glaubensschwäche oder Kollision mit dem göttlichen Plan verantwortlich machen. Bedenkenswerter sei hingegen die Tatsache, dass eine Religion selten als „ausgelöscht“ zu gelten habe. Oftmals feiere sie fröhliche Urständ in der dominanten Religion (und Kultur) oder lebe später wieder auf.
 

Andere Religionen hätten gerade auch als Konkurrenten eine Funktion im Plan Gottes – sofern dieser existiere. Ein Beispiel: Möglicherweise sei die historische Ausbreitung des Islam eine „andere Form göttlicher Offenbarung …; eine, die die christliche Botschaft ergänzt, sie aber nicht ersetzt“. In jedem Fall sei es ein „Aberwitz, den Glauben an eine bestimmte Staats- und Gesellschaftsordnung zu koppeln“. Hier spricht ein Religionswissenschaftler, der sich auf fundamentaltheologisches Gebiet (Stichwort „Theologie der Religionen“) wagt und angesichts der mangelnden systematischen Reflexion über die beschriebenen historischen Phänomene angreifbar wird.
In seinem Werk über die Suryoye (west- und ostsyrische Kirchen), die orientalischen Kirchen, die syro-malabarische Kirche (Thomaschristen) und die afrikanischen Kirchen (koptische und äthiopische Kirche) verbindet der britische Historiker Philip Jenkins historische Darstellung mit einer Analyse darüber, was Kirchen überlebensfähig macht bzw. zu ihrem Untergang führt. Er macht hierbei moderne Analyseperspektiven (Inkulturation, Globalisierung, Dechristianisierung) für die Beschreibung der Bedeutung der monophysitischen Kirchen („Nestorianer“ und „Jakobiten“), die im 5. Jahrhundert von der Orthodoxie getrennt wurden, fruchtbar. In westkirchlicher und orthodoxer Wahrnehmung – man könnte auch sagen: eurozentrischer Perspektive – spielt die Geschichte dieser Kirchen keine Rolle. Weit gefehlt! Bis ins 13. Jahrhundert hinein waren die christlichen Kirchen in jenem riesigen Gebiet von Armenien über den syrisch-palästinensischen Raum und Mesopotamien, über den Iran und Zentralasien bis nach Indien und China mit ihrem geistlichen und theologischen Potential und ihrem Selbstverständnis als authentische Zeugen der christlichen Botschaft die größte Weltreligion (Untertitel). Hinzu kämen die orientalischen Kirchen (hauptsächlich: Kopten und Äthiopier). Ein Beispiel für die Bedeutung jener Kirchen: Der Patriarch („Katholikos“) der Kirche des Ostens, Timotheus (Amtszeit: 780-823), war als Oberhaupt von einem Viertel der Weltchristenheit wohl der „bedeutendste geistliche Führer seiner Zeit“. Ihm unterstanden 19 Metropoliten und 85 Bischöfe. Zum Vergleich: Zeitgleich gab es in England lediglich zwei Metropoliten. Papst Leo III. kommt ihm nicht nahe. Abgesehen davon, dass auch das römische Christentum bis zur Verbindung mit dem Frankenreich östlich geprägt war. „In ihrer Gelehrsamkeit und in ihrem Zugang zu klassischer Bildung und Wissenschaft waren die östlichen Kirchen um 800 auf einem Stand, den das lateinische Europa nicht vor dem 13. Jahrhundert erreichte“.
Der wesentliche Unterschied beider Christentümer lag in der Verflochtenheit mit den politischen Systemen. Zunächst im Herrschaftsbereich des oströmischen und des persischen Reiches, gerieten die syrischen (und nordafrikanischen) Kirchen ab dem
7. Jahrhundert unter muslimische Herrscher. Sowohl unter persischer als auch unter muslimischer Herrschaft – weiter östlich auch in buddhistischer und taoistischer Kultur – hatten sie sich in die jeweilige Gesellschaft, Kultur und Regierungsform inkulturiert. Sie „boten ihren Glauben in der Sprache der Kultur dar, der sie begegneten, und verwendeten deren künstlerische und literarische Ausdrucks-formen“. Der Kontakt zur dominanten Religion (zunächst: Judentum, dann: Islam, Zoroastrismus; weiter östlich auch Buddhismus und Taoismus) war selbstverständlich. Die kulturelle Verwobenheit war derart eng, dass die Vorstellung, der Islam habe das Wissen der Antike in den Westen gebracht, ungenau ist. „Es waren Christen – Nestorianer, Jakobiten, Orthodoxe und andere –, die das kulturelle Erbe der Antike – Naturwissenschaft, Philosophie, Medizin – bewahrten und übersetzten und in Zentren wie Bagdad und Damaskus brachten. Vieles von dem, was wir arabische Gelehrsamkeit nennen, war in Wirklichkeit syrisch, persisch, koptisch; es war nicht notwendig muslimisch“. In diesem Kontext betont Jenkins immer wieder, dass die Wurzeln des Islam nicht zuletzt in der christlich-syrischen Tradition lägen. „Es dauerte viele Jahrhunderte, bis der Islam als eigenständige Religion klare Konturen gewonnen hatte“. Anscheinend typisch „islamische“ Eigenheiten (architektonische Formen wie Moschee, Minarett und Kanzel; strenge Fastenzeit; Niederwerfung; Separierung der Frauen; mystische Religiosität; repetierende Gebetsformen) waren christlich vorgegeben.
Ihre Blütezeit erlebte dieses Christentum zwischen dem 3. und dem 13. Jahrhundert. Bis ins
11. Jahrhundert hinein gab es nur lokale und sporadische Verfolgungen. Innerkirchlich blieb man rechtlich autonom und befähigt, missionarisch außerhalb muslimischen Herrschaftsgebiets, also weiter nach Osten, zu wirken. Dies habe jedoch nicht viel mit einem „toleranten Islam“ zu tun. Erst seit dem
14. Jahrhundert sei es zu systematischen Christenverfolgungen gekommen. Ähnliches ist auch für China (Ming-Dynastie) belegt. „Wohl nur mit Ausnahme Indiens war es nach 1300 schwierig, außerhalb des Schutzes eines christlichen Staates den christlichen Glauben zu praktizieren“. Überlebt hatte in jenen Gebieten lediglich eine kleine christliche Minderheit. Der Bevölkerungsanteil von Christen sank in Asien und Afrika von ca. 34% (um 1200) auf 6% (um 1500). Diese Minderheiten fielen den nationalistisch motivierten Verfolgungen des 19. und 20. Jahrhunderts größtenteils zum Opfer. Diese werden ausführlich erörtert (u.a. der Genozid an den Armeniern).
Das vorliegende Werk ist eine lesenswerte, auch für den historischen Laien verständliche Einführung in Geschichte und Bedeutung der syrischen und orientalischen Kirchen. Es bietet Hilfestellungen für das Verständnis heutiger religiös motivierter Konflikte (etwa in Ägypten, im Irak oder im Libanon) und rückt unsere westkirchliche Perspektive global zurecht.Allerdings erschließt sich die Gliederung nicht ohne weiteres, was ein fehlendes Register umso gravierender macht. Als Ergebnis bleibt der Eindruck zurück, dass nicht der Kampf von Kulturen oder gar Religionen zum Tod einer Kirche führt. Weitaus wichtiger sind (macht-)politische Erwägungen. Was bedeutet dies vor dem Hintergrund der von Jenkins beschriebenen und faszinierenden Inkulturationsprozesse einerseits, andererseits angesichts seiner Warnungen vor einer zu weitgehenden Assimilation (gerade auch im Politischen)? Bedarf das Christentum in christlich geprägten, jedoch säkularen Gesellschaften einer größeren Widerstandskraft und Bereitschaft zum Martyrium? Was genau ist hier dem Untergang geweiht: die säkulare Anbiederung oder das inkarnatorische Vertrauen in die Präsenz des Reiches Gottes, das nicht von dieser Welt ist? Mit welcher kritischen Distanz kommentiert Theologie in beiden Fällen das Politische, das ihr zum Verhängnis werden mag? Welcher Religionsersatz prägt (oder: prägte dann) Kultur? Möge Jenkins solche Fragen hin zu einer „Religionswissenschaft des Untergangs“ systematisch durchdenken und dadurch theologisch diskursfähig werden.

Jörg Seiler

Quelle: Eulenfisch Literatur 4 (2011), Heft 2, S. 30-32.