Topologische Erinnerungen

Buchvorstellung - 04.12.2010

Christoph Markschies/ Hubert Wolf (Hg.)
Erinnerungsorte des Christentums

München: Verlag C.H. Beck. 2010
800 Seiten mit 126 Abb. 38,00 €
ISBN 978-3-406-60500-0

Auch eine himmlische Botschaft braucht irdische Erinnerungsorte. „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, heißt es an einer zentralen Stelle des Neuen Testamentes, und dieses Tun ist auf Orte angewiesen, die der Gedächtnisfeier einen Raum und eine Dauer schenken. So lässt sich die Geschichte des Christentums auch als eine Ortsgeschichte ansehen, als eine Vergegenwärtigung der Botschaft Jesu in Jerusalem und in Rom, in Wittenberg, Krakau und Konstantinopel. Der stattliche Band „Erinnerungsorte des Christentums“ sucht eine solche Geschichte zu schreiben.

Er knüpft damit an das Projekt des französischen Historikers Pierre Nora, der schon vor drei Jahrzehnten mit seinem Konzept der „Erinnerungsorte“ und des „Kollektiven Gedächtnisses“ eine veritable Welle an topologischen Erinnerungen auslöste (so veröffentlichten u.a. Etienne François und Hagen Schulze im Jahre 2001 den sehr erfolgreichen Band „Deutsche Erinnerungsorte").
Christoph Markschies und Hubert Wolf, als Kirchenhistoriker bestens ausgewiesen, fassen den Begriff des christlichen Erinnerungsortes großzügig auf. Sie und ihre Mitarbeiter stellen „Zentralorte“ wie Jerusalem, Genf oder Rom vor, doch ebenso „Reale Orte“ wie Assisi, Köln oder Trient (über die Zuteilung lässt sich sicherlich disputieren). Hinzu kommen „Übertragene Orte“ wie Bibel, Kreuz oder Inquisition, in denen sich die lange Geschichte des Christentums auf eine symbolische, verdichtete Weise spiegelt. Insgesamt werden gut 40 Orte vorgestellt, und dies fügt sich, das sei vorausgeschickt, zu einem so anregenden wie lehrreichen Leseabenteuer.
Dass die Auswahl aus dem riesigen Stoff stets eine umstrittene bleiben muss, ist den Herausgebern klar. Gleichwohl wäre eine weiträumigere Verteilung wünschenswert gewesen. Insbesondere die zweite Abteilung führt eine übergroße Anzahl an deutschsprachigen Orten auf, die die Dynamik des Christentums nur unzureichend widerspiegeln. Bei aller Wertschätzung von Altötting, Dresden, Bethel oder Regensburg, wäre wohl ein Blick auf den polnische Wallfahrtsort Tschenstochau, auf Oxford oder Paris weiterführender gewesen. Und auch das orthodoxe Christentum erhielt mit Konstantinopel lediglich eine explizite Erwähnung, und damit entschieden zu wenig. Ein Blick auf Alexandria oder, ja, Moskau, hätte den Blick auf die Farbigkeit des Christentums sinnvoll erweitert.
Sieht man von der dornigen Auswahlfrage ab, so kann sich der Leser in eine Reihe glänzender Artikel vertiefen,die zu Meditation und Auseinandersetzung einladen. So bietet Rudolf Smend mit Sinai – auch hier wäre die Zuordnung zu reflektieren! – einen konstruktiven Blick in die Tiefen der biblischen Geschichte und zugleich auch der alttestamentlichen Exegese. „Im Fall des Sinai lässt sich gar nichts beweisen“, stellt Smend fest und führt dann doch eine Reihe von Erkenntnissen über die „theologische Größe“ dieses (Nicht-)Ortes auf. Und auch über Taizé, eine scheinbar harmlose, jugendbewegte Stätte, erfährt der Leser Staunenswertes: „Wir verbrennen alles. Wir bewahren nichts auf“ – dieses Motto der Communauté entzieht jedem archivalischem Begehren, jeder „Erinnerung“ den Boden unter den Füßen. Warum Taizé dennoch oder gerade deshalb weit über die lokalen Grenzen ausstrahlt, das weiß Christian Albrecht überzeugend zu begründen. Auf einer ganz anderen Ebene als der „Erwartungsort“ Taizé hallt die 1968 veröffentlichte Enzyklika Humanae Vitae nach, die die Herausgeber den symbolischen, den „übertragenen“ Orten zuordnen. In einer fast schmerzhaft klaren Sprache schildert der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke die Dramatik, die mit dieser Publikation verbunden war, ihre Intention und ihre Reichweite. „Es geht um alles“ – so beginnt Lüdecke seinen Beitrag und spielt damit zunächst auf die beiden Anfangsworte der Enzyklika, auf ihren Namen an. Folgt man seinen Ausführungen, so wird deutlich, dass dieses „alles“ den gesamten Inhalt des päpstlichen Rundschreibens prägt. „Die Kernnorm der Enzyklika ist so Nano-Ekklesiologie, sie selbst eine ekklesiologische Ikone der normativ restituierten Gnadenanstalt und ein Kaleidoskop katholischer Soll-Identität.“ Wer diesen Satz als Fazit versteht, wird zunächst durchatmen müssen, um dann Lüdeckes Beitrag noch einmal zu studieren. Das mag, trotz mancher Einwände im Einzelnen, für das gesamte Werk gelten. Der Rezensent jedenfalls behält den Erinnerungsband in bester Erinnerung – und in Reichweite.

Christian Heidrich

Quelle: Eulenfisch Literatur 4 (2011), Heft 2, S. 19f.