Vernünftig glauben
Arbeitsbuch für den katholischen Religionsunterricht Oberstufe
hg. v. Wolfgang Michalke-Leicht und Clauß Peter Sajak
Paderborn: Schöningh-Verlag 2011
400 Seiten
ISBN 978-3-14-053565-6
„Endlich“ müsste man eigentlich sagen, denn es ist schon lange her, dass ein Verlag es gewagt hat, ein neues Religionsbuch für den katholischen Religionsunterricht der gesamten sechs Halbjahre der Oberstufe zu veröffentlichen. Die Erwartungshaltung seitens der Religionslehrkräfte ist groß. Gewünscht ist ein Lern- und Arbeitsbuch, das in seiner didaktischen Konzeption den aktuellen Stand der religionspädagogischen und religionsdidaktischen Diskussion widerspiegelt und dabei Bezug nimmt zum eher religionsfernen Lebenskontext heutiger Jugendlicher.
Gewünscht ist ferner, dass das ausgewählte Material passgenau zu den medial geprägten Erfahrungsräumen der Schülerinnen und Schüler ist, die präsentierten Lernwege und Aufgabenstellungen kompetenzorientiert gestaltet sind und diejenigen Kompetenzen fördern, die die „Einheitlichen Prüfungsanforderungen an das Abitur“ vorgeben. Auch Forderungen nach individuellen Lernwegen, binnendifferenzierten Aufgabenformaten mit unterschiedlichen Arbeitszugängen, die die kognitiven und soziokulturellen Rahmenbedingungen heutiger Jugendlicher berücksichtigen sind ebenso virulent wie kreative und ganzheitliche Zugänge zu den klassischen theologischen Lernbereichen des Religionsunterrichts der Sekundarstufe II.
Kann das vorliegende Religionsbuch diese Erwartungen erfüllen?
Das Buch ist in zehn Kapiteln gegliedert, die folgende Themenbereiche ansprechen: Wirklichkeit - die eine oder unendlich viele, Mensch - auf dem Weg zu Gott, Religion - was den Menschen unbedingt angeht, Gott - offenbarte Verborgenheit, Die Bibel - glauben und verstehen, Jesus Christus - kennen und bekennen, Die Kirche - Einheit in Vielfalt, Zukunft - Zeit und Ewigkeit, Ethik - vernünftig und frei handeln, Religion in Staat und Gesellschaft.
Die Kapitel sind sehr ansprechend und übersichtlich gestaltet. Jedes Kapitel folgt dem gleichen Aufbau. Eine Einleitung spricht die wesentlichen Perspektiven und Kompetenzen meist in Form von Problem- und Fragestellungen an. Auch die Unterkapitel beginnen mit „Was Sie erwartet“ und machen so den angestrebten Lernprozess transparent. Jedes Unterkapitel präsentiert unterschiedliches Arbeitsmaterial. Das Autorenteam ist bemüht, dabei verschiedene Lernkanäle anzusprechen, verwendet neben aktuellen Texten Lyrik, Karikatur, Grafiken, Bilder, Fotos etc. und verlangt auch in den Aufgabenstellungen sehr oft textunabhängige Präsentationsformate. Texte sind doppelspaltig gesetzt, mit Zeilenzählung und meist mit Kurzinformationen zum Autor versehen und erleichtern so die Bearbeitung. Die Texte sind ferner sowohl in ihrer Länge als auch ihrem Schwierigkeitsgrad sehr unterschiedlich und eröffnen dadurch Differenzierungsmöglichkeiten. Bilder nehmen einen breiten Raum als Arbeitsmaterial ein. Die angebotenen Frage- und Aufgabenstellungen sind offen formuliert und bewegen sich im Spektrum von Textwiedergabe, Wissensreorganisation und –transfer mit durchaus kreativen Optionen. Sie verlangen von den Schülerinnen und Schülern ein hohes Maß an Eigenarbeit und Diskursbereitschaft. Viele Aufgabenstellungen erwarten eine wirkliche Auseinandersetzung mit Sachverhalten und eine Positionierung, die vor anderen präsentiert und um die mit anderen gerungen werden muss. M.E. kommen diese Aufgaben- und Fragestellungen dem sehr nahe, was kompetenzorientiertes Arbeiten sein muss, vor allem dann, wenn individualisierte Lernwege gegangen werden können.
In den Aufgabenstellungen werden auch Methodenkompetenzen erwartet und gefördert. Hierzu bietet ein Anhang hilfreiche Informationen. Auf ihn wird in den Aufgabenstellungen dezidiert verwiesen. Im Anhang findet sich auch ein Glossar mit zentralen Begriffen auf die in den Texten verwiesen wird.
Das erworbene Wissen kann als Anwendungswissen in Form einer Selbstkontrolle am Ende jedes Kapitels überprüft werden: „Wenden Sie Ihr Wissen an“. Hier regen motivierende Frage- und Aufgabenstellungen dazu an, die erworbenen Einzelaspekte zu bündeln und in übergeordnete Zusammenhänge zu stellen. Kapitelübergreifende Aspekte machen den Kompetenzzuwachs deutlich und erhöhen die Brauchbarkeit des vorliegenden Buches als wirkliches Unterrichtsbegleitbuch auf dessen didaktische Entscheide ich mich einlassen muss/kann – es ist somit viel mehr als eine bloße Textsammlung.
Blickt man in den Inhalt der einzelnen Kapitel, so fällt auf, dass das gesamte Buch sehr anspruchsvoll gehalten ist – und das ist gut so, ist doch der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach dem allgemeinen Anspruchsniveau schulischer Bildung verpflichtet. Die ausgewählten Materialien und die dazugehörigen Aufgabenstellungen in den Kapiteln verlangen konzentrierte und kontinuierliche Mitarbeit an der Sache und leisten auf diese Weise einen Beitrag zur Legitimation des Religionsunterrichts in der öffentlichen Schule.
Schon das die Schülerinnen und Schüler begrüßende Vorwort legt sowohl inhaltlich als auch in seiner Diktion die Messlatte sehr hoch, Bedenkt man aber, dass das Buch jungen Menschen der E-Phase ausgehändigt wird, die in der Regel um die 14-15 Jahre alt sind, muss die Frage erlaubt sein, ob das lateinische Anselm-Zitat in seiner Tragweite als roter Faden der Einleitung des Religionsbuches und damit des Gesamtcurriculums des Religionskurses der Sekundarstufe II schon an dieser Stelle verstanden werden kann und muss. Man kann sicherlich unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob dieser Ansatz eine tragfähige und motivierende Grundlage bietet, vor allem bei denen, deren familiäre und schulische religiöse Sozialisation durchaus als brüchig zu bezeichnen ist – und davon finden sich in den Kursen der Oberstufe zunehmend mehr Schülerinnen und Schülern.
Was die Materialauswahl betrifft, so hat jeder Lehrer und jede Lehrerin Vorlieben und Steckenpferde, die man in den Neupublikationen freudig wiederfindet oder schmerzlich vermisst.
Ich zum Beispiel finde meine eigene Schwerpunktsetzung im Religionsunterricht der Q1 im Christologiekapitel bestätigt. Die didaktische Konzeption in Jesus Christus – kennen und bekennen vom historischen Aufweis, über die Grundlegung des RG in den Taten Jesu, der soteriologischen Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu und die theologische Ausformulierung (und Festlegung) des Glaubens in den Bekenntnissen überzeugt mich auch in der reduzierten Materialauswahl und den Aufgabenformaten. In meiner Wahrnehmung ein grundsätzlich gelungenes Kapitel mit kleiner Kritik an einzelnen Aufgabenstellungen.
Aber ich vermisse auch etwas. Z.B. im Anthrolopologiekapitel Mensch – auf dem Weg zu Gott den Aufweis der biblischen Grundlegung der Freiheitsgarantie in Gen 1 und 2 und deren „Anwendung“ in den Sündenfallgeschichten, wenn sozusagen die Möglichkeit des Entscheides gegen Gott als notwendiger Prüfstein für die wirkliche Freiheit gegeben wird, die Gott uns geschenkt hat. In Fortsetzung dieser Freiheitsthematik und deren Begründung im Kapitel Gott - offenbarte Verborgenheit vermisse ich diesen Bezug umso schmerzlicher im Rahmen der Theodizee-Problematik, zumal dort (6. Theodizee: Gott und das Leid der Schöpfung) darauf rekurriert wird. Hier kann ich mich nur bedingt auf die didaktischen Entscheide des Buches einlassen, die die anthropologischen Grundkonstanten aus Gen 1 unter Gottesebenbildlichkeitsaspekten erarbeiten, dann sofort auf die Fehler- und Schuldproblematik übergehen und die Frage nach dem freien Willen unter außerbiblicher/außertheologischer Perspektive diskutieren. Der wirklich sehr gute Text von Karl Rahner nimmt auf die Exodustradition Bezug, ein „neuer“ und zusätzlicher Aspekt, der unter Elementarisierungsüberlegungen nicht zwingend notwendig erscheint.
Mit Spannung habe ich mir das Kapitel „Kirche – Einheit in Vielfalt“ angeschaut, weil gerade in diesem genuin konfessionellen Feld ein Ausweichen auf andere, evangelische Religionsbücher für die Oberstufe nur in sehr begrenzten Fragestellungen möglich ist. Ich bin mir sicher, dass nicht nur ich ein besonderes Augenmerk auf gerade dieses Kapitel gelegt habe, andere werden genauso aufmerksam die didaktische Schwerpunktsetzung und die Materialauswahl in den Blick nehmen, denn gerade hier liegt ein Prüfstein für eine konfessionelle Profilierung, die zurzeit von vielen Seiten gefordert ist.
Ich will mit den vielen positiven Aspekten beginnen.
Auszüge aus Peter Eichers Briefwechsel mit seiner Tochter bieten reichhaltiges Potenzial für Bestandsaufnahmen zur aktuellen Situation und zur aktuellen Bewertung von Kirche. Gut gefällt mir ebenfalls das Kapitel zur Kirchenstiftung mit der didaktischen Perspektive des Ziels in der Eucharistiegemeinschaft (auch wenn mir die Notwendigkeit des Bezugs zum tridentinischen Messritus überhaupt nicht einleuchtet). Auch die Idee, das Widerständige als Alteritätserfahrung in Kirche als Kontrastgesellschaft deutlich zu machen, wenn Glaube sein kritisches Potenzial gegen gesellschaftliche Trends entfaltet, überzeugt. (Ob die Abtreibungsproblematik hier glücklich positioniert ist, darf kritisch beurteilt werden.) Perspektiven anderer Religionen und Konfessionen, Amtsverständnis, Kirchenbau-Kirchenbild, Frauenordination sind immer wieder diskutierte Themen, die in einem Ekklesiologieteil ihren Platz finden müssen und hier unter konfessionsverschiedener Perspektive beleuchtet werden. Hier bietet das Buch interessante Materialien und vor allem anspruchsvolle Aufgabenstellungen.
Kritisch sehe ich zum einen einzelne Materialen. Einiges ist benannt, ich hätte mir mehr Originaltexte, weniger „Bezugsliteratur“ gewünscht. (z.B. Auszüge aus nostra aetate statt einem Hirtenbrief dazu.) Den Raum, den z.B. die Sinusmilieustudie oder die Mission in China einnehmen, hätte ich persönlich anders gefüllt – nun ja. Grundlegender ist meine Wertung in einem anderen Feld: Welches Bild von Kirche wird den Jugendlichen hier vermittelt? Vor allem, welches Zukunftsbild? Ist es die Jugendkirche, finden wir es in klösterlichen Gemeinschaften oder sind Taizé und die „kleinen geistliche Gemeinschaften“ eine Perspektive? Alles große und der Lebens- und Erfahrungswelt der Jugendlichen entfernte und fremde Entwürfe – wo aber bleibt die konkrete Arbeit in den Gemeinden vor Ort? Wo wird die Reflexion dieser Arbeit zum Gegenstand, d.h. wo wird die konkrete Erfahrung der Schülerinnen und Schüler mit konkreter Kirche zum Lerngegenstand? Letztlich: Wo und wann sind sie selbst Kirche?
Zurück zum Ganzen und der Ausgangsfrage nach dem Erfüllen der Erwartungen.
Im Gesamten gefallen die Aufmachung und der Aufbau des Religionsbuches. Es ist stringent als Lehr- und Arbeitsbuch konzipiert und motivierend gestaltet. In den Kapiteln finden sich viele Beiträge „jüngerer“ Theologen und Theologinnen mit „unverbrauchten“ Beiträgen neben den notwendigen „Klassikern“. Dies gilt auch für die Bilder und Erzählungen. Die Aufgabenstellungen sind methodisch abwechslungsreich und basieren auf Erfahrungen mit kompetenzorientiertem Unterricht. In ihrer grundsätzlich anspruchsvollen Formulierung nutzen sie abiturrelevante Operatoren und lassen den Schülerinnen und Schülern in der Regel viel Raum für eigene und unterschiedliche Lernwege und Darstellungsformate. Kleinere Fehler, dass z.B. nicht alle im Textteil markierten Begriffe im Glossar auch erläutert sind oder die Tabelle zur 2-Quellen-Theorie einen ärgerlichen Druckfehler hat, werden die Herausgeber wahrscheinlich mehr aufregen als die Lehrinnen und Lehrer selbst; diese sind an pragmatischen Umgang mit Materialien gewohnt.
Ich bin überzeugt, dass mit diesem Oberstufenbuch für den katholischen Religionsunterricht viele der oben genannten Erwartungen erfüllt worden sind und bin gespannt auf die ersten Erfahrungsberichte über den Einsatz von Vernünftig glauben in der E-Phase und darüber hinaus.
Frank Wenzel