Klaus Wengst
„Wie lange noch?“
Schreien nach Recht und Gerechtigkeit. Eine Deutung der
Apokalypse des Johannes
Stuttgart: Kohlhammer 2010
320 Seiten, €29,90
ISBN 978-3-17-021103-2
Wengst arbeitet den subversiven Charakter der "Enthüllung" als "Untergrundliteratur" (21f) heraus. "Es geht nicht um Prognose, sondern um Protest" (46), um die Stärkung des Widerstands. Vision versteht er bei Johannes vor allem als Zitation – nämlich der Bibel (17, 45, 116-118, 175 u.ö.). Und gesättigt von biblischer Sprache, ist das Buch für diejenigen seiner Zeitgenossen "verhüllend", die die Bibel (d.h. Tora, Propheten und Schriften) nicht kennen (21); denn sie können die Bilder, Anspielungen, Chiffren nicht verstehen. Es ist insofern Verschlüsselung und Enttarnung zugleich (131).
Wengst erschließt dem heutigen Leser diese Bezüge und ihre Neu-Arrangierung im Detail – und auf überzeugende Weise enthüllt sich ihm so die politische Dimension (und Begrifflichkeit) der Offenbarung und ihre Verortung im politisch-militärischwirtschaftlichen Machtkomplex des römischen Imperiums am Ende des 1. Jh. n. Chr.. Das ist die Situation, mit der die christlichen Gemeinden Kleinasiens konfrontiert sind und angesichts derer sie ihren Weg zwischen Assimilation und Isolation, zwischen Mitmachen und Marginalisierung suchen.
Johannes plädiert für die strikte Verweigerung der Assimilation, für das Nicht-Mitmachen bei der verderblichen Verstrickung des "Raubtiers" (Symbol der politischmilitärischen Gewaltherrschaft Roms) und seines "Bildes" (auch "zweites Raubtier" und "Lügenprophet" genannt = die kultisch-religiöse Propaganda dieser Herrschaft im Kaiserkult) und der "Hure" (Metapher für das ausbeuterische Wirtschaftssystem Roms auf der Basis seiner imperialen Macht). Denn dieses System ist nur Nachäffung (135, 149, 153) und wird letztlich an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen (202). Im Himmel aber sind die wahren Machtverhältnisse jetzt schon sichtbar. Und im Gottesdienst besingt die Gemeinde sie schon vorgreifend – gegen die alltäglich erfahrbare, brutale irdische Realität. Denn "gekommen ist die Weltherrschaft unseres Kyrios und seines Christus" (11,15) – ein politischer Affront Ersten Grades gegen den Anspruch Roms und seines Imperators auf eben diese Weltherrschaft. Aber: der Christus ist das "Lamm, das geschlachtet wurde" (5,6.12) – dessen einzige Macht sein Wort ist. In seiner offenkundigen Ohnmacht, in seinem Leiden und Sterben ist er das Vorbild der – ganz von Israel her bestimmten – Gemeinde. Sie ist die herrschaftsfreie Alternative zum Imperium (216).
Spannend – auch für uns heute. Denn Imperien und imperiale Gelüste sind auch gegenwärtige Realität. Wirtschaftliche Ausbeutung auf der Basis politischmilitärischer Gewalt ebenso. Und natürlich auch die kultische Verehrung von Macht, Größe, Stärke und Reichtum.
Obwohl Wengst eine Auslegung fast aller Abschnitte und Verse bietet, ist dieses Buch – Frucht mehrerer Vorlesungen und Seminare zur Apokalypse – doch kein klassischer Kommentar, sondern eine gründliche, in sich schlüssige, didaktisch klug aufgebaute und hervorragend im Zusammenhang lesbare Einführung. Sucht man gezielt Information zu einzelnen Versen oder Abschnitten, hilft das ausführliche Stellenregister. Übersetzungen bietet Wengst nur für wenige Abschnitte. Fachdiskussionen zu Einzelfragen führt er durchaus (u.a. macht er sich mehrfach und überzeugend zum Anwalt der griechischen Sprachkompetenz des Johannes, die von so manchen Auslegern in Zweifel gezogen wurde), setzt sie aber meist in eine Fußnote oder einen typographisch abgesetzten Passus.
Insgesamt also eine Deutung der ebenso oft missverstandenen und missbrauchten wie verachteten und übergangenen Johannesoffenbarung, die das Anliegen ihres Verfassers für die damalige Zeit so erschließt, dass man ihre frappierende Aktualität für die Gegenwart erkennt.
Reinhold Reck (2010)
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Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart