Uto Meier (Hg.)
Bernhard Sill (Hg.)
Führung, Macht, Sinn
Ethos und Ethik für Entscheider in Wirtschaft, Gesellschaft
und Kirche
Regensburg: Pustet 2010
855 Seiten, € 34,90
ISBN 978-3-7917-2264-1
Zunächst die Fakten: zwei Professoren der Katholischen Universität Eichstätt als Herausgeber, ein Geleitwort des Münchner Erzbischofs Reinhard Marx, ein Grußwort des Eichstätter Universitätspräsidenten Andreas Lob-Hüdepohl und dann auf über 800 Seiten 72 Beiträge von insgesamt 86 mehr oder minder prominenten AutorInnen – von (um nur ein paar Namen zu nennen) dem am 31. Mai 2010 zurückgetretenen Bundespräsidenten Horst Köhler und Kardinal Karl Lehmann über Horst Seehofer, Hans Küng und Anselm Grün bis Annette Schavan und Rolf E. Breuer; dazwischen 12 Farbdrucke zeitgenössischer Künstler und ein Gedicht von Valeri Scherstjanoi. Das Ganze gesponsort – ohne dieses soziale Gift scheint ja nichts mehr zu gehen – von der Siemens AG (!) und dem französischen Baustoffkonzern Saint-Gobain Building Distribution Deutschland GmbH.
Bei den Autoren sticht ins Auge, dass die Politiker fast alle aus dem schwarz-gelben Bereich kommen (Ausnahme: Hans-Jochen Vogel), dass ca. 30 (ausschließlich römisch-katholische!) Theologen vertreten sind, dass der Frauenanteil mit 21 Autorinnen bei knapp 25 Prozent liegt.
Liest man etwas in die Beiträge hinein, so wird deutlich, dass die meisten erst nach der großen Bankenkrise 2008/2009 verfasst sind – und vor der Euro- und Finanzkrise 2010.
Und man merkt auch bald: mit den "neue(n) ethische(n) Standards für den Umgang mit der Macht" (Umschlagbanderole) ist es so weit dann doch nicht her. Wozu sonst die vielen Rückgriffe auf die biblischen und geistlichen Traditionen – von den Zehn Geboten und Mose bis zu Jesus und den großen benediktinischen, franziskanischen, jesuitischen Ordensregeln (453-559) –, auf altindische und buddhistische Lehren (662-674), auf philosophische Ansätze (675-687) und traditionelle Tugenden, auf geschichtliche Erfahrungen wie den 20. Juli 1944 (313) und auf bewährte Modelle wie das schon im Mittelalter entwickelte Leitbild des "ehrbaren Kaufmanns" (28; 113f; 173) und das Konzept der Sozialen Marktwirktschaft (35, 442-452). Schließlich kommen auch Art.1 des Grundgesetzes (812), Kants kategorischer Imperativ (813), die Goldene Regel (815f) und sogar der Schlusssatz des Codex Iuris Canonici von 1983 ("Salus animarum suprema lex" 819) vor.
Was also ist dieses Buch? Ein schwarz-gelbes Kaleidoskop von wirtschaftsethischen Themen, gut rückgebunden in die Tradition und bezogen auf aktuelle Fragen – z..B. die Genderthematik (Haderthauer, 55-67; Frenzel 710-720) – bzw. Fehlentwicklungen? So weit, so gut. Aber wo bleibt das Kritische, Nachdenkliche, Widerständige? Wo scheint das Neue auf?
Während ich diese Rezension schreibe, sprudeln im Golf von Mexiko schon seit mehr als 10 Wochen Unmengen von Öl aus dem Bohrloch der "Deepwater Horizon" ins Meer. Wie konnte es so weit kommen? Durch rücksichtslose Profitgier im Klüngel mit korrupten Aufsichtsbehörden? Durch kurzsichtige Politik, die immer noch der Ideologie eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums huldigt, das aber nur um den Preis des Raubbaus an den natürlichen Ressourcen des Lebensraums Erde zu erkaufen ist?
In der Katastrophe wird die Fehlentwicklung offenbar. Aber wirkmächtiger ist die schleichende Erosion: Viele Dinge unseres alltäglichen Lebens (Rohstoffe, Nahrungsmittel, Kleidung, Spielsachen, Computer) werden irgendwo auf dieser Erde unter Mensch und Natur ausbeutenden Bedingungen produziert. Ist das keine Frage von "Ethos und Ethik für Entscheider in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche" (Untertitel)? In der Vielfalt und Fülle der Beiträge fehlen die globalen Perspektiven weitgehend. Denn: wer unter den "hohe(n) RepräsentantInnen des Staates, bedeutende(n) Amtsträger(n) der Kirche wie auch maßgebliche(n) Wirtschaftslenker(n) und viele(n) renommierte(n) WissenschaftlerInnen" (6) wagt es, lautstark und penetrant von den Grenzen des Wachstums, von einer Ethik des Genug, von der Notwendigkeit globaler Umkehr der Lebens- und Wirtschaftsweise zu sprechen – und im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst mutig umzusteuern? Dennoch: an manchen Stellen blitzt auch Kritik auf – z.B. bei Rolf Dobelli 765-769 mit seinen frechen Fragen und Thesen:
"Haben Sie sich jemals an der Konzernspitze verletzt?"
"Beruhigt Sie die Tatsache, dass auch Ihr Vorgesetzter einmal sterben wird?"
"Welche Prinzipien würden Sie für den zehnfachen Monatslohn über Bord werfen?"
"Möchten Sie Ihr Chef sein?"
"Gott wäre in jedem Führungsseminar durchgefallen."
Wer den Band in die Hand nimmt, kann gewiss vielfältige Anregungen zu gegenwärtigen wirtschafts- und führungsethischen Debatten finden. Auch viel bewährtes, doch irgendwie abhandengekommenes Orientierungswissen der Menschheit. Grundsätzliches durchaus. Er wird auch (selbst-)kritische Gedanken finden – u.a. von den Herausgebern in ihrem resümierenden Schlussbeitrag (807-829), von Seiten der "üblichen Verdächtigen" (Hengsbach), aber auch von Seiten, wo man es vielleicht weniger erwartet hätte (Breuer). Trotzdem: mir fehlen Stimmen, die radikaler – auch christlich-theologisch radikaler – Stellung beziehen und Perspektiven entwerfen.
Kapitalismus und Marktgläubigkeit werden kaum hinterfragt, ebensowenig die Wachstums- und Globalisierungsdogmen. Die ökologische Blindheit von Wirtschaft und Politik finde ich nicht thematisiert. Diskurse über wirklich alternative Ansätze kommen nicht vor (z.B. die Idee, über für alle Menschen gleiche individuelle CO²-Emissionsrechte den bisher ungehemmten und gegenüber den Armen zutiefst ungerechten Zugriff der Wohlhabenden auf die natürlichen Lebensgrundlagen zu zügeln).
Schließlich gilt wohl auch für diesen voluminösen Band die alte Weisheit: dass weniger manchmal mehr wäre! Hätte man auf Prominenz verzichtet, thematisch klarer fokussiert und sich dann auf die 25 interessantesten Beiträge beschränkt, es wäre ein spannendes Buch entstanden – und vielleicht sogar ohne Sponsoring zu drucken gewesen.
Reinhold Reck (2010)
© www.biblische-buecherschau.de 2010
Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart