Karin Finsterbusch/ Michael Tilly (Hg.)
Verstehen, was man liest
Zur Notwendigkeit historisch-kritischer Bibellektüre
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2010
200 Seiten 20,95 €
ISBN 978-3-525-58012-7
Dass biblische Texte nicht vom Himmel gefallen, sondern in mehr oder weniger langen Prozessen entstanden sind, ist allgemein bekannt. Dennoch hat es die Analyse dieser Wachstumsprozesse biblischer Texte mithilfe der historisch-kritischen Methodik momentan nicht leicht. Ihr wird nicht selten mit Misstrauen, Vorurteilen und Missverständnissen begegnet. Nicht nur ihr Nutzen und möglicher Erkenntnisgewinn, auch ihre Methoden und Kriterien selber sind in den letzten Jahren immer wieder der Kritik ausgesetzt worden. Trotz alledem ist eine historisch-kritische Auslegung biblischer Texte unverzichtbar und von Bedeutung für ihr Verständnis.
Doch warum ist dies so, und wieso sollten sowohl Studierende als auch Schüler/-innen in die diachrone Methodik eingeführt werden? Die Herausgeber und Beitragenden des vorliegenden Sammelbandes stellen sich genau diesen Fragen und demonstrieren dabei an konkreten Beispielen, welchen Gewinn die Anwendung einer diachronen Textbetrachtung mit sich bringen kann.
Der Sammelband, welcher auf die Tagung zum Thema „Notwendigkeit und Grenzen historisch-kritischer Bibellektüre“ im Jahr 2008 zurückgeht, beinhaltet neun Beiträge von katholischen und evangelischen Wissenschaftler/-innen aus Deutschland und der Schweiz der Disziplinen Altes und Neues Testament sowie Religionspädagogik. Der Fokus der einzelnen Beiträge liegt dabei nicht auf Diskussionen einzelner historisch-kritischer Arbeitsschritte oder ihrem Verhältnis zueinander, noch auf einer möglichen Verbindung von synchroner und diachroner Methodik, vielmehr versuchen die Autoren und Autorinnen in den einzelnen Beiträgen, die „grundsätzliche Bedeutung von historisch-kritischen Fragestellungen für das Verständnis biblischer Texte aus ihrer Forschungsperspektive und anhand von Beispielen“ aufzuzeigen.
Zu Beginn werden den Leserinnen und Lesern drei Beiträge aus alttestamentlicher Perspektive dargeboten. So zeigt Hans-Josef Fabry mithilfe neuerer Erkenntnisse aus der Septuaginta- und Qumranforschung auf, dass die Entstehungsgeschichte biblischer Texte und des Kanons einen längeren und komplizierteren Prozess bildete als bisher vermutet. Klaus Biberstein verdeutlicht recht beeindruckend anhand dreier Beispiele der biblischen Rede von dem einen Gott, welchen Erkenntnisgewinn die Berücksichtigung historischer Kontexte für diese biblischen Texte bringen kann. Und schließlich präsentiert Thomas Staubli eine „ikonographische Lektüre“ der Erzählung über die Bindung Isaaks (Gen 22,1-14) und veranschaulicht dabei recht eindrucksvoll, wie die Einblendung von Bildinterpretationen aus der Umwelt des alten Israels zu einem besseren Textverständnis führen kann.
Die vier sich anschließenden Beiträge aus neutestamentlicher Perspektive vertiefen das Anliegen des Buches weiter. So versucht Michael Wolter aufzuzeigen, dass „mit dem historisch-kritischen Zugang ein wesentliches Anliegen des Kanons der neutestamentlichen Schriften aufgenommen und weitergeführt“ wird. Der Beitrag von Ute Eisen widmet sich den Erzählsequenzen zur Verurteilung Jesu in den Evangelien, welche sie unter erzählanalytischer und entstehungsgeschichtlicher Perspektive näher untersucht. Dabei verdeutlicht sie, dass erst durch die Unterscheidung der Kommunikationsebenen eines Textes und der Berücksichtigung des Erzählinteresses sowie der Erzählstrategien der Charakter dieser Erzählsequenzen erkennbar wird. Eine diachrone Untersuchung der im NT vorkommenden Bezeichnung Gottes als Gottvater erfolgt bei Reinhard Feldmeier, wodurch es ihm recht überzeugend gelingt, die Ergebnisse religionsgeschichtlich einzuordnen und Entwicklungstendenzen dieses Gottesbildes aufzuzeigen. Frances Back widmet sich in seinem Beitrag der religionsgeschichtlichen Methode und ihrer Bedeutung für das Verständnis neutestamentlicher Texte am Beispiel der Johannesforschung im 20. Jahrhundert, die sich mit der Frage nach dem Verhältnis des Johannesevangeliums zur Hermeneutik auseinandersetzt.
Am Ende des Sammelbandes finden sich schließlich zwei Beiträge aus religionspädagogischer Sicht. So nimmt Elisabeth Reil Stellung zu der Frage, ob überhaupt – und wenn ja wie – im Religionsunterricht der Grundschule mit den Schülerinnen und Schülern historisch-kritisch gearbeitet werden kann und soll. Abschließend widmet sich der Beitrag von Christian Cebulj der Bedeutung historisch-kritischer Arbeit in der Bibeldidaktik, wobei er dies anhand von Bausteinen eines von ihm in der 12. Jahrgangsstufe durchgeführten Forschungsprojektes näher verdeutlicht. Auch wenn dieser Sammelband versucht, recht unterschiedliche Beiträge, die teilweise sehr in die Tiefe gehen und je eigene Schwerpunkte setzen, zu vereinigen, erinnert es doch teilweise an ein Sammelsurium von Tiefbohrungen. Dies ist gleichzeitig aber auch die Stärke des Sammelbandes, gelingt es doch dadurch, die Möglichkeiten und Chancen historisch-kritischer Arbeitsweise in ihrem Facettenreichtum darzustellen.
Annett Gierke-Ungermann
Quelle: Eulenfisch Literatur 4 (2011), Heft 1, S. 4f.