Jörg Frey/ Jens Schröter (Hg.)
Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen
Beiträge zu außerkanonischen Jesusüberlieferungen aus verschiedenen Sprach-und Kulturtraditionen (WUNT, 254)
Tübingen: Mohr Siebeck 2010
810 S. €139,00
ISBN 978-3-16-150147-0
Studium und Erforschung apokrypher Texte aus dem Umfeld des NT und des frühen Christentums haben gegenwärtig ausgesprochen Hochkonjunktur – vielleicht auch, weil sich hier ein thematisch buntes und umfängliches Textfeld bietet, bei dem noch nicht jeder Vers oder gar Halbvers diskutiert, jedes Thema (scheinbar!) bearbeitet und die Literatur noch nicht Legion ist. Auch der hier vorzustellende Sammelband, mit seinen 810 Seiten schon nicht mehr ganz handlich in Ausmaß und Gewicht, reiht sich in diesen Forschungstrend ein.
Es handelt sich um die Dokumentation einer 2007 in Wittenberg gehaltenen Tagung. Thematischer Leitfaden für die 25 Beiträge (in deutscher, englischer und französischer Sprache) ist die apokryphe Jesusüberlieferung, im Unterschied etwa zu apokryphen Texten, die sich vornehmlich mit dem Wirken der Apostel oder anderer Figuren des frühen Christentums beschäftigen
Die ersten drei Beiträge stehen im Zeichen der Einführung. J. Frey und J. Schrötergeben zunächst einen breiten Überblick zum Gesamt des Bandes, bevor J. Schröter in einem zweiten Beitrag den Konnex von Kanonwerdung und der Rede von „apokryphen Evangelien“ beleuchtet. C. Markschies fragt schließlich nach dem „Sitz im Leben“ apokrypher Evangelien und bestimmt diesen vorsichtig im Sinne von Erbauungsliteratur für Mönche wie Laien, wobei den apokryphen Texten durchaus theologische Subtilität und Tiefenschärfe zu eigen sein kann – auch und gerade dann, wenn sie im Blick auf Inhalt und Stil vermeintlich schlicht, volkstümlich und populär erscheinen (86–90).
Die folgenden Beiträge sind in drei thematische Gruppen geordnet. Mit Einzelschriften und einzelnen Schriftengruppen beschäftigen sich die Aufsätze von J. Frey (zu den judenchristlichen Evangelien), E. Rau (zum geheimen Markusevangelium), T. Nicklas (Petrusevangelium), U. U. Kaiser (Kindheitsevangelien), E. E. Popkes (Thomasevangelium), H. Schmid (Philippusevangelium), E. A. de Boer (Evangelium der Maria), J. L. Haagen (zu den Berliner und Straßburger Evangelienfragmenten), G. Wurst (zur Sophia Jesu Christi und zum Eugnostosbrief) und U.-K. Plisch (zu Judasevangelium und -gedicht).
Eher übergreifenden Fragestellungen, die an verschiedene Texte und Textgruppen herangetragen werden, gehen die Beiträge von J. A. Kelhoffer (zum Begriff Evangelium), J. Hartenstein (zu Autoritätskonstellationen in apokryphen und kanonischen Texten), K. L. King (zum Gnosisbegriff im Kontext des Petrusbriefes an Philippus) und P. Gemeinhardt (zum Bild Jesu bei paganen Autoren) nach.
Die Jesusüberlieferung in unterschiedlichen Sprachkreisen nehmen schließlich die letzten sieben Beiträge in den Blick: P. Nagel (für die koptische Überlieferung apokrypher Jesusworte), C. B. Horn/R. B. Phenix (zu Evangelien und Texten in syrischer Sprache), I. Dorfmann-Lazarev (zur armenischen Überlieferung von Texten über die Kindheit Jesu), C. B. Horn (arabische Evangelien), T. Abraha/D. Assefa (Evangelien in äthiopischer Tradition), C. Böttrich (für slawische Texte) und M. McNamara (frühe irische Jesusüberlieferung).
Aus diesem weiten Angebot sollen im Folgenden zumindest zwei Aufsätze näher vorgestellt werden. Die angesichts eines solchen Sammelbands notwendige Auswahl ist dabei ohne Frage subjektiv und interessengeleitet. Sie stellt keine inhaltliche Be-oder Abwertung der übrigen Beiträge dar.
Judith Hartenstein untersucht in ihrem Beitrag („Autoritätskonstellationen in apokryphen und kanonischen Evangelien“, 423–444) apokryphe und kanonische Texte dahingehend, wie in ihnen Figuren der Textwelt mit Autorität im Sinne einer „Ansehensmacht“ (423) ausgestattet werden. Welche erzählerischen Mittel werden eingesetzt, um einer Figur oder auch einer Gruppe Autorität zukommen zu lassen? Lassen sich dabei Muster und Modelle erkennen, die für eine bestimmte Zeit oder eine eigene Textgruppe typisch sind? Schließlich: Welchen pragmatischen Nutzen haben zunächst innertextliche Autoritätskonstellationen angesichts der Kommunikation des Textes mit seinen Leserinnen und Lesern? – Das sind einige ihrer Leitfragen.
Im Blick auf vorhandene Typen von Autoritätskonstellationen lassen sich nach Hartenstein zwei Grundmodelle (mit Abstufungen) unterscheiden: (1.) Die Konstruktion von Autorität im Blick auf Einzelfiguren gegenüber einer Gruppe. Beispiele sind der Thomas des Thomasevangeliums (Schreiber der Worte Jesu; ein Zwilling Jesu?; der Schüler Jesu, dessen Erkenntnis die der anderen Schüler überragt) und Maria Magdalena im Mariaeevangelium (von Jesus besonders geliebt [generell ist die Auswahl durch Jesus, der zentralen Autoritätsfigur schlechthin, und die bleibende Verbundenheit mit ihm das Hauptkriterium für die Zuschreibung von Autorität]; intime Kenntnis der Worte Jesu), die beide Jesus so nahe stehen, dass sie ihn aufgrund ihrer „spirituellen Reife“ (429) vor der Gruppe der Restschüler geradezu vertreten können (mit Abstufungen gilt dieser Typ von Autoritätskonstellation auch für Johannes im Apokryphon des Johannes, für Jakobus in der ersten Jakobusapokalypse und evtl. auch für Judas im Judasevangelium).
(2.) Die Autorität einer Gruppe, wobei Einzelfiguren durchaus hervorgehoben sein können, gleichwohl aber Teil der Gruppe bleiben. Dieser Typ wird etwa im „Dialog des Erlösers“, der „Weisheit Jesu Christi“, dem „Brief des Petrus an Philippus“ sowie – in unterschiedlichen Graden und mit z. T. subtiler Kritik an der ambivalent gezeichneten Gruppe der zwölf Schüler (am ausgeprägtesten wohl im Markusevangelium) – in den vier kanonischen Evangelien realisiert.
Dieses differenzierte Ergebnis wertet Hartenstein nun diachron aus, wenn sie ein Einzelelement der Autoritätskonstruktion, nämlich die Abfassungsfiktion (eine Einzelfigur innerhalb der Erzählung wird als Verfasser der Schrift stilisiert: z. B. Thomas für das Thomasevangelium oder der Geliebte Jünger für das Johannesevangelium), in den Blick nimmt. Ihre spannende und auf den ersten Blick überzeugende These lautet: Es ist „eine Entwicklung erkennbar, die mit der Abfassungszeit zusammenhängt. Später verfasste Evangelien berufen sich auf eine wichtige Autorität aus dem Kreis der Jüngerinnen und Jünger, der [sc. im Evangelientext, M. L.] mehr oder weniger ausdrücklich die Abfassung des Evangeliums zugeschrieben wird. Die ältesten Evangelien tun dies nicht. Die Grenze liegt dabei […] am Ende des ersten Jahrhunderts zwischen dem Lukasevangelium und dem Johannesevangelium“ (438). Auf den Beginn des 2. Jh. datiert Hartenstein entsprechend auch das Thomasevangelium. Solche Autorenfiktionen dienen nun nicht nur der Absicherung der erzählten Inhalte für die Leserinnen und Leser (die exklusive Stellung des Verfassers garantiert, dass die vermittelte Botschaft „aus nächster Nähe Jesu“ [437] stammt), sie helfen dem neuen Text auch, sich auf „dem ‚Markt‘ für Evangelien“ (438), den Hartenstein als einen Verdrängungsmarkt (Lukas etwa will Markus und Q verdrängen [439]) charakterisiert, zu positionieren, zu behaupten und durchzusetzen. Hier konnte man, plakativ formuliert, mit einer großen Figur des Anfangs besser „Staat machen“.
Fraglich bleibt für mich in diesem Zusammenhang, wie sich Texte in diese Entwicklung einordnen lassen, die als späte Texte ohne eine solche Autorenfiktion (eine große Figur des Anfangs oder gar Jesus selbst) auskommen? Anders gesagt: Gibt es eine zeitliche Obergrenze für diese Entwicklung nach dem 2. Jh.?
Die Stilisierung von Erzählfiguren zu autoritativen Personen hat also eine ganz pragmatische Funktion im Blick auf die Leserinnen und Leser des Textes wie auch im Blick auf das Verhältnis des Textes zu seinen „Kon-Texten“. Weniger deutlich ausgeprägt ist indes, darauf weist Hartenstein im abschließenden Kapitel ihres Beitrags hin, die autoritätsstabilisierende Funktion erzählter Autoritätsfiguren für die realen Autoritäten innerhalb der christlichen Gemeinden zur Entstehungszeit der jeweiligen Texte. Hier scheint vielmehr mit der Darstellung von Autorität innerhalb der Texte ein kritisches Korrektiv für die in der konkreten Gemeindewirklichkeit vorhandenen Autoritätsstrukturen zu bestehen. Diese diachrone Analyse mit pragmatisch-funktionaler Interpretation des Befundes, die nach meiner Wahrnehmung das Herzstück des lesenswerten Aufsatzes bildet, ist insgesamt sehr reizvoll und regt zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik an. Dafür hat Hartenstein eine wichtige und überzeugende Vorarbeit geleistet.
Noch eine letzte Bemerkung: Mehrfach und völlig zu Recht betont Hartenstein im Rahmen ihres Beitrags, dass angesichts der verschiedenen von ihr herausgearbeiteten Autoritätskonstellationen eine einfache Differenzierung anhand der Trennmarke „kanonisch vs. apokryph“ nicht wirklich verfängt. Auch in apokryph gewordenen Texten finden sich nämlich Modelle von Autoritätskonstellationen, die in kanonisch gewordenen Texten erzählt werden. Dies zeigt einmal mehr, dass in historischer Perspektive die Unterscheidung „kanonisch vs. apokryph“ nur bedingt aussagekräftig ist (425) und nicht als Differenzkriterium schlechthin fungieren kann.
Gleichwohl, und das möchte ich noch deutlicher als Hartenstein betonen, lässt sich doch festhalten, dass es bei der Kanonisierung frühchristlicher Texte offensichtlich kein Text vom ersten Typ der hartensteinschen Autoritätskonstellation (autoritative Einzelfigur als Gegenüber zu einer Gruppe) in die Sammlungseinheit „Evangelien“ geschafft hat. Das ist theologisch durchaus gewichtig. Der Typus „von Jesus berufener Einzelkämpfer“ als autoritativer Garant und alleiniges Sprachrohr Jesu war offensichtlich nicht gefragt; selbst das Johannesevangelium, das diesem Typ mit dem Geliebten Jünger und einer auf ihn bezogenen Verfasserfiktion noch am nächsten kommt, musste es sich gefallen lassen, dass (spätestens) mit Joh 21 der Geliebte Jünger ein Pendant erhält: Petrus.
In gewisser Weise eine Sonderstellung im Ganzen des Buches nimmt der Beitrag von P. Gemeinhardt ein. Diese Sonderstellung resultiert aus dem behandelten Textmaterial. Christliche Apokryphen, die mehr oder weniger im Zentrum der 24 anderen Beiträge stehen, sind ja Texte aus dem Binnenraum der frühchristlichen Welt. Sie sind von (und wohl primär auch für) Menschen geschrieben worden, die von Jesus und seinem Wirken überzeugt waren. Gemeinhardt wendet sich, darin in diesem Band singulär, den Stimmen der „Gegner“ zu und nimmt pagane bzw. jüdische Autoren in den Blick, die als Nicht-Christen gleichwohl etwas über Jesus und seine Anhängerinnen und Anhänger zu sagen haben. Diese Jesusbilder nicht christlicher Autoren (wie Celsus, Porphyrius, Sossianus Hierocles, Lukian u. a.), die wir oft nur im verzerrenden Spiegel christlicher Apologeten finden können, gruppiert Gemeinhardt nach thematischen Gesichtspunkten: „Es sind vor allem drei religionsgeschichtliche Schubladen, in die Jesus von den ‚Heiden‘ gesteckt wurde: Magier, Weiser, Gott. Paradigmatisch lassen diese drei Kategorien erkennen, wie die Gestalt Jesu ‚passend‘ gemacht wurde, um für pagane Autoren und Leser verständlich und damit kritisierbar / rezipierbar zu sein.“ (470f.). Für die einen (etwa Celsus und Porphyrius) ist Jesus eine Art Zauberer, der mit magischen Mitteln Wunder vollbringt. Dass er diese Wunder faktisch wirkt, steht dabei nicht zur Diskussion. Wohl aber, dass ihn diese magische Kompetenz in irgendeiner Weise gegenüber anderen Magiern und Wundertätern auszeichnen würde. Was Jesus kann, können auch andere. Wunder verbürgen keine Göttlichkeit. Und mehr noch: Pagane Autoren schildern Jesu Wunderwirken derartig, dass er sich der ägyptischen Magie nahe stehenden Praktiken bediente, „die ethisch mindestens bedenklich und rechtlich sogar strafbar waren“ (476). Andere (etwa Flavius Josephus, Mara bar Sarapion) sehen in Jesus einen weisen Mann (aber keinen Gott, zu dem die Christen Jesus erst gemacht hätten) oder bestreiten explizit die Weisheit dieses gekreuzigten Menschen und vor allem seiner Anhänger (Lukian, Macarius Magnes). Interessant ist in diesem Kontext das Zeugnis des Mara bar Sarapion, für den gerade das Todesgeschick Jesu (sofern sich die Wendung „Was hatten […] die Juden von der Hinrichtung ihres weisen Königs“ auf Jesus bezieht [479]) zum Nachweis seiner Weisheit wird, insofern Mara bar Sarapion Jesus vor diesem Hintergrund mit Sokrates und Pythagoras vergleicht. Die Göttlichkeit Jesu, von den Christen geglaubt, wird von paganen Autoren durchgehend abgelehnt und ein solcher Glaube als „Verblendung“ (489) verstanden. Jesu Leben und Sterben qualifizieren ihn in keiner Weise zu einem Gott. „Das Göttliche kann nicht ins Menschlich-Irdische eingehen“ (484). Schon die Geburt Jesu zeigt in dieser Perspektive, dass hier kein Gott zur Welt kommt.
Nach dieser anregenden systematischen Darstellung des Befundes fasst Gemeinhardt seine Ergebnisse zusammen. Dabei betont er nochmals, dass vor allem die von den Christen geglaubte Göttlichkeit Jesu für pagane Autoren schlechthin unannehmbar sei (auch und gerade dann, wenn sie Jesus als einen weisen Menschen durchaus gelten lassen können). Interessant ist seine Beobachtung, die pagane Kritik, sofern sie sich nicht auf eine eher allgemeine Wahrnehmung des Christentums beziehe, setze Texte aus den später als kanonisch bezeichneten Evangelien voraus, nicht aber apokryph gewordene Evangelien. Wenn dem so wäre (für eine sichere Behauptung bedarf es m. E. weiterer, intensiver Textvergleiche, die in dieser Form nicht im Beitrag Gemeinhardts zu finden sind), dann könnte man tatsächlich fragen, ob es unter den paganen Autoren geradezu ein Gespür dafür gab, welche Texte im frühen Christentum kanonische Karriere machen würden, an denen sich dann die pagane Kritik besonders abzuarbeiten hätte: „Es könnte durchaus sein, dass die ‚Heiden‘ bereits wahrnahmen, dass innerhalb des Christentums de facto eine Vorentscheidung über die Kanonizität von Schriften gefallen war, die sich ‚Evangelium‘ nannten, und dass christliche Gesprächspartner sich nicht auf gnostische oder andere umstrittene Schriften behaften lassen würden“ (492). Sollte dies der Fall sein, müssten in der Tat die „paganen Seitenreferenten“ (492) im Blick auf die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen Kanons stärker Beachtung finden.
Aufs Ganze gesehen versammelt der Band eine Fülle von thematisch weit gefächerten Beiträgen, die durch knapp 60 Seiten Register vorbildlich erschlossen werden. Es steht außer Frage, dass es sich bei den Autorinnen und Autoren durchweg um Fachleute handelt, die für Fachleute mit speziellen Sprach-und Themenkompetenzen schreiben. Für diese Kenner der Materie ist der vielschichtige Band ein Gewinn. Für alle anderen am Thema grundsätzlich Interessierten, die vor allem einen Zugang zur nicht kanonischen Textwelt des frühen Christentums suchen, könnten etwa die von H.-J. Klauck verfassten Bände (Apokryphe Apostelakten. Eine Einführung, Stuttgart 2005; Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 2008) sowie der von C. Markschies und J. Schröter neubearbeitete „Hennecke/Schneemelcher“ (= Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung; voraussichtlich: Tübingen 72011) hilfreich sein.
Markus Lau
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 5/2011