Andreas Gold
Lernschwierigkeiten
Ursachen, Diagnostik, Intervention
Stuttgart: Verlag Kohlhammer 2011
324 Seiten, 34,90 Euro
ISBN 978-3-17-019079-5
Lernen ist leicht« – diese Überschrift des ersten Kapitels mag in einem Buch über Lernschwierigkeiten provokant erscheinen. Andreas Gold, Professor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität und stellvertretender wissenschaftlicher Leiter des LOEWE-Forschungszentrums IDeA, stellt hier die Funktionsweise der – in der Regel sehr sinnvoll organisierten und dadurch erfolgreichen – normalen Lernprozesse und Lernmechanismen in kompakter Form vor. Gleichzeitig gibt er einen Überblick über die individuellen, entwicklungs- und umweltbedingten Voraussetzungen erfolgreichen Lernens.
Aber Lernen ist nicht immer erfolgreich – und deshalb ist das erste Kapitel quasi die thematische Exposition der Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich Schwierigkeiten und Störungen des Lernens manifestieren, nach Erklärungen und Hilfestellungen verlangen. Hier beginnt die Einlösung der Grundmelodie, die bereits in der Interesse weckenden Einleitung vorgestellt wurde. Schulisches Lernen kann scheitern, aber dies ist verbunden mit dem Scheitern des Lehrens: Schüler können nicht lernen, was Lehrer ihnen nicht begreiflich machen können – und umgekehrt. Lernschwierigkeiten sind deshalb ein Problem mangelnder Passung zwischen Lernvoraussetzungen und -möglichkeiten auf der einen Seite und Anforderungen, Kompetenzerwartungen und Lernangeboten auf der anderen Seite.
In den weiteren Kapiteln wird die Exposition konsequent ausgearbeitet, die sich folgerichtig aus der Problemanalyse ergibt: »Lerner unterscheiden sich« ist die Überschrift und zentrale Botschaft des zweiten Kapitels. Präsentiert und diskutiert werden besonders bedeutsame in¬dividuelle Merkmale wie Intelligenz oder Sprachkompetenz, soziokulturelle Einflüsse wie das familiäre Anregungspotenzial sowie schulstrukturelle Bedingungen wie der Umgang mit Diversität, insbesondere in Formen leistungsmäßiger Trennung. Auch das Thema Bildungsgerechtigkeit wird aus pädagogisch-psycho¬logischer Sicht angesprochen – ein Thema, das sich mit seinen verschiedenen Facetten und Implikationen durch das ganze Werk hindurchzieht.
Weiter geht es um Entstehungsbedingungen von Lernschwierigkeiten, um Möglichkeiten der Prävention, insbesondere beim Vorliegen von Risikofaktoren, um die Diagnose von Lernvoraussetzungen. Kompetenzdiagnostik, bei der auch Bildungsstandards berücksichtigt werden, erfasst einerseits die Resultate von Lern- und Bildungsprozessen, andererseits auch die Voraussetzungen für zukünftige Lernprozesse. Auf die Diagnose erfolgt die möglichst passgenaue Intervention, das heißt Beratung, Durchführung von Trainingsmaßnahmen und Schaffung von Lerngelegenheiten mit dem Ziel, die individuellen und institutionellen Bedingungen für erfolgreiches Lernen zu verbessern. Auch Modethemen wie die Neurodidaktik, bei der die Erkenntnisse und Spekulationen der modernen Hirnforschung einbezogen werden, oder bildungspolitisch aktuelle Themen wie die Forderung nach Inklusion werden aufgegriffen und fachlich eingeordnet.
Das Schlusskapitel »Lernen – ein Passungsproblem« macht noch einmal deutlich: Lernschwierigkeiten resultieren aus dem ungünstigen Zusammentreffen von beeinträchtigten oder risikobelasteten individuellen Lernvoraussetzungen mit unpassenden Unterrichtsangeboten und Lerngelegenheiten sowie mit Lernzielen oder Bildungsstandards, die für diese Konstellation unrealistisch sind. Von Schülerinnen und Schülern hat man schon immer erwartet, dass sie sich an unterschiedliche Unterrichtskonzepte und Lehrerpersönlichkeiten anpassen. Von den institutionellen Rahmenbedingungen und der konkreten Unterrichtsgestaltung wird man in Zukunft mehr als bisher erwarten müssen, dass Lernsituationen möglichst optimal adaptiert werden, damit auch das Menschenrecht auf gesellschaftliche Inklusion und individuelle Förderung gewahrt wird und zu Recht gesagt werden kann »Kein Kind wird zurückgelassen!«
Das Buch ist nicht als Ratgeberliteratur für betroffene oder besorgte Eltern konzipiert; dafür müssten einige Passagen stärker von einer Wissenschaftssprache in die Alltagssprache übersetzt werden. Formulierungen wie »metamemoriale Defizite«, »Volitionskontrolle« oder »zentralexekutive Prozesse« können ungeübte Leser ins Stolpern bringen. Dennoch wird das Buch auch interessierten Eltern Hilfestellungen geben können. Der Autor vermeidet konsequent leserunfreundliches Imponiergehabe wie unmotivierte Anhäufung von Details, Autorennamen oder Literaturangaben im Text. Aber natürlich werden alle Quellen korrekt aufgeführt, über 800 Literaturangaben werden verarbeitet und dokumentiert. Viele detailliert beschriebene Forschungsbefunde werden in gesonderten »Hintergrund«-Texten vorgestellt; alle relevanten Begriffe werden erläutert. Es handelt sich also um ein Werk mit höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen, das dennoch immer um Nutzerfreundlichkeit bemüht ist und Hilfestellungen für die Praxis gibt.
Das Buch richtet sich an alle Lehrkräfte und Lehramtsstudierende. Eine Fokussierung auf Förderschullehrer erscheint nicht notwendig und auch nicht sinnvoll – zum einen wegen der aktuellen Inklusionsdebatte, vor allem aber auch deshalb, weil Lernschwierigkeiten in allen Schularten und -stufen vorkommen. Die Lektüre wird auch für Schulpsychologen hilfreich und informativ sein, ebenso für Studierende der Psychologie und der Erziehungswissenschaft. Und ich möchte das Buch dringend allen Bildungspolitikern ans Herz legen. Manche Vorurteile werden hier ins Wanken kommen.
Siegfried Preiser
Der Rezensent Prof. Dr. Siegfried Preiser ist Rektor der Psychologischen Hochschule Berlin. Er war von 1974 bis März 2011 Professor für Pädagogische Psychologie und Leiter der Arbeitseinheit »Lebenslanges Lernen« an der Goethe- Universität.
Quelle: Forschung Frankfurt. Das Wissenschaftsmagazin 29 (2011), H. 1, S. 77.