Suizid - Selbstmordforschung

Buchvorstellung - 16.01.2009

Adrian Holderegger
Suizid – Leben und Tod im Widerstreit
(Topos plus Tb 432)

Kevelaer: Topos plus Verlagsgemeinschaft 2002
137 S., € 8.90
ISBN 3-7867-8432-9

Der Suizid ist ein bedrückendes Phänomen, besonders dann, wenn er von jungen Menschen, die das Leben noch vor sich hätten, verübt wird. Vielfältige Fragen nach dem Warum und nach der Schuld der Gesellschaft, der Menschen in der Umgebung und des Suizidanten selbst werden laut. Die Fragen werden um so drängender, als die statistischen Daten, die Holderegger in seinem Buch anführt, erschreckend sind. Täglich nehmen sich nach Schätzungen der WHO mehr als 1000 Menschen das Leben, und die Tendenz weist aufsteigend.

Die empirische Selbstmordforschung hat nun nach Holderegger ein Verständnis geschaffen, „das uns einen sachlicheren und auch menschlicheren Umgang mit der Selbstmordproblematik erlaubt“ (8). Ein unbefangenerer Zugang zu diesem Problem ist positiv in Bezug auf eine Abkehr von einem entmenschlichenden Verschweigen, kann aber insofern sehr problematisch werden, als der Suizid einbezogen wird in ein falsches Autonomieverständnis, das ein Verfügungsrecht des Einzelnen über Leben und Tod postuliert. Um beidem, dem Verschweigen wie der Selbstrechtfertigung, zu begegnen, ist umfassende Information über das Phänomen des Suizids notwendig. Als solche versteht Holderegger seine Schrift, als eine „praktische Annäherung an die Suizidtragik“ (11).

Bei all den erschreckenden Daten über den Suizid muss man sofort mitbedenken, dass man von einer „multifaktoriellen Verursachung“ (19) ausgehen muss, sowohl was den einzelnen Suizid als auch was verschiedene Suizide betrifft. Es wird immer Ausschau gehalten werden müssen nach „Entwertungsfaktoren“ auf verschiedenen Ebenen, die einen solch einschneidenden Schritt, wie ihn der Suizid darstellt, bedingen. Nur in einer solchen umfassenden Analyse der Entwertungsfaktoren werden sich auch die notwendigen umfassenden Strategien zur Bekämpfung des Suizids aufbauen lassen, die in der Bekämpfung der verschiedenen Formen der Einengungen und Aggressionen, die dem Schritt der Selbsttötung vorangehen und die von Walter Pöldinger in den drei Stadien „Erwägen – Abwägen – Entschluss“ systematisiert werden, erfolgversprechend sind. Aus psychologischer und soziologischer Perspektive entwirft Holderegger ein umfassendes Bild der in den drei Stadien sich anzeigenden Problematik des Verursachungssyndroms. Interessant erscheint angesichts der heutigen individualisierenden Situation besonders das, was Holderegger über den Integrationsmangel als Auslösungsfaktor des Suizids ausführt.

Bedenkenswert ist auch, was der Verfasser unter der Überschrift „Der Suizid in einem ganzheitlichen Verständnis“ in Bezug auf die heute verstärkt geführte Diskussion über das Verfügungsrecht über das Leben sagt, wenn er schreibt: „Philosophisch und abstrakt geführte Diskussionen um das Verfügungsrecht des Menschen über das Leben, um Gründe und Gegengründe der Selbsttötung bleiben im ‚luftleeren Raum’ oder sind zumindest unvollständig, solange sie nicht erweitert werden mit dem Wissen um die pathologischen und tragischen Dimensionen des Suizidphänomens. Denn erfahrungsgemäß schätzen Suizidgefährdete – einmal abgesehen von der moralischen Dimension – das Thema nach der Selbstverfügung anders ein als diejenigen, welche nicht unmittelbar tödliche Gedanken tragen.“ (S. 76f.) Und doch ist es wichtig, sich dieser Diskussion zu stellen, erzeugt sie doch oft das Klima, das Suizid wahrscheinlicher macht. Die Tiefen des Menschlichen, die sich im Suizid auftun, müssen bedacht werden. Und es ist wichtig zu bedenken, was Religiosität an Möglichkeiten für Suizidprävention gestattet. Holderegger sieht positive Religiosität vor allem in Bezug auf Bereicherung der sozialen Interaktion und Unterstützung der intrapsychischen Emotions- und Verhaltensregulation (91f.).

Aus ethischer Perspektive nähert sich Holderegger der Frage der Schuld und des Rechts auf den eigenen Tod an, ohne eine letzte „Fraglichkeit“ (Wilhelm Weischedel) auflösen zu wollen und zu können. Der Erklärung des Suizids als Todsünde durch Papst Nikolaus I. folgt eine lange Lehrtradition bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die Souveränität Gottes als Argument gegen die freie Selbstverfügung des Menschen, wie es seit Augustinus vorgebracht wird, oder das Argument, Selbsttötung verstoße gegen die Eigenliebe und gegen die Gemeinschaft, bleiben für Holderegger unzulänglich, auch das Argument, der Schöpfergott sei der alleinige Herr über Leben und Tod, erweist sich für den Autor als nicht stichhältig. Vielmehr meint er, dass das „Verantwortungs-Sein des Menschen .. die reale Möglichkeit von Selbsttötung aus sittlicher Verantwortung zunächst einmal offen (lässt), auch wenn in concreto noch zu sehen ist, ob es den Fall von direkter Verfügung als verantwortliche Tat überhaupt geben kann“ (120). Dem, der in der Lebensanfechtung dem Imperativ der verantwortungsvollen Gestaltung nicht gerecht werden kann, wird nach Holderegger die Tröstung des Glaubens gelten müssen, „dass der lebendige Gott die Dunkelheit des Lebens umfängt, auch schweigend und diskret, und dass man sich getrost dem überlassen kann, der dieses Leben gestiftet hat, selbst dann, wenn die Lebensanfechtung nicht bestanden werden kann“ (120f.).

An uns aber ergeht die Forderung, die Holderegger mit dem Satz von Paul Valery anspricht: „Der Selbstmord ist die Abwesenheit des anderen.“ Dürfen wir als Andere abwesend sein?

Leopold Neuhold

Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 33 (2004), Heft 1, S. 43f.