Religion in den Jugend-Shellstudien

Buchvorstellung - 04.02.2009

Sylvia Thonak
Religion in der Jugendforschung
Eine kritische Analyse der Shell-Jugendstudien in religionspädagogischer Absicht (Junge Lebenswelt, Bd. 2)

Münster u.a.: LIT Verlag. 2003
331 S., EUR 19.90
ISBN 3-8258-6898-2

Seit über 50 Jahren prägen die Shell-Studien das Bild der Jugend in der öffentlichen Meinung des deutschsprachigen Raums. Wenn es um Befindlichkeiten, Trends und Werte von Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht, bildet die jeweils aktuelle Shell-Studie eine quasi unantastbare „Zitationsinstanz“, die von Politikern ebenso zu Rate gezogen wird wie von Meinungsforschern, Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, Kultusministerien und Kirchen. Die Behauptung ist sicher nicht übertrieben, dass den Shell-Jugendstudien im jugendsoziologischen Bereich eine Art „Nimbus der Unantastbarkeit“ anhaftet.

An diesem Nimbus kratzt die hier vorzustellende religionspädagogische Dissertation ganz kräftig. Sie wurde im WS 2002/03 an der Evang.-Theol. Fakultät der Universität Münster (Gutachter: Chr. Grethlein/W. Engemann) eingereicht und nimmt das Thema „Religion“ in den letzten drei Shell-Studien unter die Lupe. Dabei kommt die Verf. zu dem interessanten Ergebnis, dass zwar mit den Ergebnissen der Shell-Studien bis heute Jugendpolitik gemacht wird, der Bereich "Religion" innerhalb der Studien aber entweder in hohem Maße vorurteilsbelastet ist oder aber höchst lückenhaft behandelt wird. Wahrnehmung und Darstellung von „Religion“ in den letzten Shell-Studien müssen sich zudem den Vorwurf des Reduktionismus gefallen lassen (289). Der Deutungsrahmen von „Religion“ in den Shell-Studien geht nach Thonak in sehr verengter Weise davon aus, Religion existiere im Wesentlichen in der institutionellen Gestalt der großen Kirchen und sei insofern im Rahmen einer allgemeinen Säkularisierung dem sicheren Verfall preisgegeben. Dem stellt die Verf. gegenüber, die Phänomenologie der Formen gelebter Religion bei Jugendlichen in der postsäkularen Gesellschaft Deutschlands sei durchaus vielseitiger als es die Darstellungen der Jugendstudien aus den Jahren 1992, 1997 und 2000 suggerieren möchten. Thonaks These gipfelt in der bemerkenswerten Beobachtung, dass „Religion“ und „Religiosität“ bei den Items der Shell-Studien entweder unterbelichtet oder von den Autoren „versehentlich vergessen“ (166) worden seien. Im Gegensatz dazu würden sie in den Interview-Beiträgen der Jugendlichen aber gerade nicht ausgeblendet, sondern teilweise sehr intensiv thematisiert.

Die methodologische Kritik an den Jugendstudien bildet auch den Ausgangspunkt für die Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit: In zwei Hauptkapiteln werden die 11. und 13. Jugendstudie untersucht (56-166, 172-276), die 12. Jugendstudie 1997 wird nur kurz behandelt (166-171), da hier das Thema Religion ja „versehentlich vergessen“ worden war. Die 14. Jugendstudie erschien kurz nach der Fertigstellung der Dissertation und wird deshalb in einem Anhang ausgewertet (277-288). Thonaks These ist, dass sich der Religionsbegriff aller drei Shell-Studien zumeist auf die längst überholten kirchengemeindesoziologischen Thesen von R. Köster stützten (ders., Die Kirchentreuen, Stuttgart 1959). Dies lässt sich im Vergleich mit den Interview-Items tatsächlich plausibel nachweisen. Anstelle der veralteten Theorie Kösters setzt die Verf. die Jugendstudien zunächst mit der religionssoziologischen Theorie des Christentums von D. Rössler in Beziehung (Grundriss der Prakt. Theologie, Berlin/New York 21994), der nicht mehr zwischen Kernmitgliedern, Kirchgängern, Randmitgliedern und Nichtmitgliedern unterscheidet, sondern die neuzeitliche Gestalt des Christentums in einen privat-individuellen, einen kirchlichen und einen öffentlich-gesellschaftlichen Bereich gliedert (291). Aus Rösslers Ansatz ergibt sich nun in der Tat der Vorwurf – vor allem an die 11. Jugendstudie –, sie habe unter dem „Verfallsaspekt“ zu sehr den kirchlichen Bereich in den Mittelpunkt gestellt, dabei aber den individuellen wie den öffentlich-gesellschaftlichen Aspekt von Religion ausgeblendet. Hier benennt die Verf. sehr klar einen nicht von der Hand zu weisenden Mangel am Religionsbegriff der Shell-Studien.

Um diesen unklaren Religionsbegriff genauer zu fassen, unternimmt die Verf. einen weiteren Analyseschritt, indem sie neben den soziologischen einen religionspsychologischen Deutungsrahmen stellt. Dabei stützt sie sich auf das in der Forschung etablierte Modell des finnischen Religionspädagogen Kalevi Tamminen, der „Religion“ als multidimensionales anthropologisches Phänomen versteht (ders., Religiöse Entwicklung in Kindheit und Jugend, Frankfurt/M., Bern, New York 1993). Während die Jugendstudien nur zu zwei religiösen Dimensionen Items entwickelt haben, bietet Tamminen fünf Funktionen von Religion an, die eine klarere Phänomenologie des Begriffs erlauben: Die Erfahrungsdimension, die ideologische, intellektuelle, ritualistische und konsequentielle Dimension. Durch den Vergleich mit Tamminen wird deutlich, wie sehr die Shell-Studien jugendliche Religiosität auf die formale, rituelle Frequenz und Partizipation am konfessionellen Christentum reduzieren (165), dabei aber wesentliche andere Bereiche ausblenden.

Die Stärke der vorliegenden Arbeit liegt zum einen darin, dass sie aufzeigt, wie die Autoren der Shell-Studien in der Beurteilung einzelner Fragen, z.B. in der Einschätzung des Phänomens der Säkularisierung, offenbar veralteten Klischees aufgesessen sind, die dem neuesten Stand der religionspädagogischen Forschung nicht mehr standhalten. Eine andere Stärke der Arbeit liegt in ihrem wissenschaftstheoretischen Impuls: Zur Behebung der genannten Defizite fordert die Verf. die sozialwissenschaftliche Jugendforschung mit Recht auf, in Religionspädagogik und Theologie stärker als bisher die Bezugsgrößen für einen interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs zu sehen. Allderdings hält Thonak richtig fest, dass auch Religionspädagogik und Theologie ihrerseits die Möglichkeit wahrnehmen müssten, sich im „einseitig stummen Dialog“ mit der Jugendforschung zu engagieren.

Mit der vorliegenden Arbeit ist zweifellos ein erster Schritt in diese Richtung getan. Der Band ist trotz des umfangreichen Datenmaterials flüssig lesbar geschrieben und leistet m.E. zweierlei: Erstens stellt er für wissenschaftlich arbeitende Religionspädagog/-innen eine ganze Reihe soziologischer Standards in Frage, auf die sich die Jugendforschung seit langem selbstverständlich stützt. Zweitens bestätigt er für alle, die in der täglichen Praxis der Schule oder der Jugendarbeit stehen, die Breite und Vielfalt jugendlicher Religiosität, keineswegs nur ihren Verfall oder gar ihre Nichtexistenz.

Christian Cebulj

Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 33 (2004), Heft 2, S. 104f.