Zählt nur das "fehlerfreie" Leben?

Buchvorstellung - 27.02.2009

Annette Leonhardt (Hg.)
Wie perfekt muss der Mensch sein?
Behinderung, molekulare Medizin und Ethik

München-Basel: Ernst Reinhardt Verlag. 2004<
214 S. mit 3 Abb., € 24.90
ISBN: 3-497-01658-6

Der von Annette Leonhardt, Professorin für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, herausgegebene Sammelband dokumentiert eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Ethik – Molekulare Medizin – Behinderung“. Wie erklärt sich die Kombination dieser sehr unterschiedlichen Themen? Je besser die Möglichkeiten der Biomedizin werden, desto mehr kommt die Frage auf, ob Menschen mit Behinderungen überhaupt noch geboren werden sollten.

Schon heute werden in der sogenannten „zivilisierten Welt“ 95% der Embryonen abgetrieben, bei denen genetische Schäden pränatal diagnostiziert werden. Macht es nicht Sinn, diese Methode bei künstlichen Befruchtungen zu nutzen und nur gesunde Embryonen einzupflanzen? Wie ist der umgekehrte Weg zu beurteilen, dass behinderte Eltern die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik nutzen, um selbst behinderte Kinder zu bekommen, wenn z.B. taubstumme Eltern auch taubstumme Kinder wollen, wie dies in Amerika geschehen ist? Kann man aus der Absicht, vor der Geburt eines Menschen Krankheiten und Behinderungen zu verhindern, schließen, dass Menschen mit Behinderungen nach ihrer Geburt diskriminiert werden?

Die Antworten auf diese und weitere Fragen fallen so vielfältig aus, wie die unterschiedlichen, vertretenen Fachrichtungen von der Gesundheitsökonomie über die Politik bis zu Theologie und Biologie. Wer sich allerdings die Mühe macht, die einzelnen Artikel unter systematischen Gesichtspunkten zu betrachten, der wird reich belohnt.

Zum Beispiel taucht immer wieder die Frage auf, ob die Selektion behinderten Lebens vor der Geburt eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen nach der Geburt zur Folge hat. Wolfgang Frühwald erinnert in diesem Zusammenhang an die Kränkungen der menschlichen Eigenliebe, die Siegmund Freud 1917 entdeckt hat. Danach hatte Kopernikus Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Sonnensystems war, eine gewaltige, bewußtseinsverändernde Wirkung. Ebenso die darwinische Lehre, die die vom Hochmut geschaffene Scheidewand zwischen Mensch und Tier niederriss. Schließlich die Psychoanalyse selbst, die das erhabene Gefühl des Menschen an sein Triebleben band. Diesen Kränkungen fügt nach Frühwald die Biotechnologie eine weitere hinzu, weil sie Leib und Leben unter die Verfügbarkeit des Menschen selbst stelle. In dieselbe Richtung argumentiert der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff. Er weist auf die Bitterkeit und Ausweglosigkeit für einen Menschen mit Behinderung hin, wenn er sich vor Augen führt, dass er wahrscheinlich nie geboren worden wäre, wenn es zu seiner Zeugungszeit bereits die Möglichkeiten der PID gegeben hätte. Der Heilpädagoge Otto Speck sieht die Konsequenzen schon jetzt. Immer öfters komme es vor, dass mit Blick auf Behinderte konstatiert würde, dass das heute nicht mehr sein müsse. Und der Sprachforscher Horst-Dieter Schlosser zeigt am Begriff des Wunschkindes, wie sich der Wandel der Mentalitäten im Wandel der Sprache ausdrückt. Erfüllte früher das natürlich geborene und damit mehr oder weniger zufällige Wunschkind den Kinderwunsch der Eltern, so beinhaltet heute der Begriff das künstliche gezeugte, gezielt gemachte Kind. In Kontrast zu diesen Überlegungen zeigt der Berliner Soziologe Wolfgang van der Daele anhand von Umfragenergebnissen, dass die Selektion Behinderter vor der Geburt nicht zwingend zur Diskriminierung nach der Geburt führt. Mehr noch: Es fällt auf, dass selbst 80% der Eltern von Menschen mit Beeinträchtigungen die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik und eine Abtreibung nach entsprechender Diagnose für vertretbar halten. Während sich in manchen Bundesländern die Abtreibungsrate von Kinder mit Trisomie 21 auf die 100% zugeht, wächst gleichzeitig die Toleranz gegenüber diesen Kindern im wirklichen Leben. Immer mehr Menschen sprechen sich dafür aus, diese Menschen in ihren Familien zu belassen und integrativ zu erziehen, statt sie in „Anstalten“ unterzubringen. Dagegen belegen die Umfragen, dass das Selbstkonzept, das Betreuer von Menschen mit Behinderungen haben, viel defizitorientierter ist, als dies bei den Betroffenen selbst und dem allgemeinen Umfeld der Fall ist. Es scheint dann nur konsequent, wenn der Gesundheitsökonomiker Peter Oberender fordert, dass derjenige, der von seinem Recht auf Nichtwissen Gebrauch macht, dann auch für die bei sich oder bei dritten auftretenden Schäden haften müsse, wenn sie sonst verhinderbar gewesen wären.

Damit ist eines klar: Die Beiträge dieses Bandes geben keine abschließende Antwort auf die Frage seines Titels. Sie brauchen es nicht, weil die Wirklichkeit viel vielschichtiger ist, als es eine Überschrift provokativ auf den Punkt zu bringen versucht. Die Stärke diese Bandes ist es, diese Vielschichtigkeit dem Leser vor Augen zu führen.

Caspar Söling

Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 33 (2004), Heft 3, S. 185f.