Kriterien einer gemeinschaftsdienlichen Kritik

Buchvorstellung - 06.11.2010

Klaus Mertes
Widerspruch aus Loyalität
Ignatianische Impulse; Bd.39

Würzburg: Echter Verlag. 2009
77 Seiten, 6,90 Euro
ISBN 978-3-429-03172-5

„Dieses Buch ist allen gewidmet, die unter der gegenwärtigen Situation in der Kirche leiden, insbesondere den Katholiken unter ihnen.“ Als Klaus Mertes, Jesuitenpater und Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, diesen einleitenden Satz formulierte, ahnte er sicherlich nicht, dass seine Überlegungen über den „loyalen Widerspruch“ und den „guten Geist“ der Kritik bald als ein Kommentar zu erschreckenden Ereignissen gelesen werden könnten.

Mehr noch: Dass er selbst in den Sog einer ungeheuerlichen Entwicklung hineingezogen werden würde, deren Ende noch unabsehbar ist, in der aber die von ihm bedachten Worte mittlerweile eine brennende, eine schmerzhafte Aktualität bekommen haben. „Dem Schweigen widersprechen“, so ist das Schlusskapitel seines an Seiten knappen, an Gedanken aber reichen Werkes überschrieben. Darin finden sich Sätze, die man, Anfang des Jahres 2010, nicht unberührt lesen kann: „Das Schweigen schweigt sozusagen aus sich selbst heraus, besonders dann, wenn es ein vererbtes Schweigen ist: Das Schweigen einer Nation über den von ihr begangenen Genozid, das Schweigen des Klerus über den Missbrauch in seinen Reihen, das Schweigen einer Sippe über eine traumatische Erfahrung.“ Ein solches vererbtes und finsteres Schweigen, so Mertes, gelte es zu durchbrechen. Nur so könne Gewalt aufgedeckt werden, könne eine Gemeinschaft, die fälschlicherweise glaubte, ein Recht auf das Schweigen zu haben und von ihm zu profitieren, den Weg zur Umkehr finden. Wer hier kritisiert, ist loyal, will seine Gemeinschaft vorwärtsbringen.

Kurz: „Widerspruch aus Loyalität ist ein Dienst an jeder Gemeinschaft, die lebendig bleiben will.“ Klaus Mertes’ Überlegungen, die man auch als Meditationen wahrnehmen kann, fragen nach den Kriterien einer gemeinschaftsdienlichen, einer konstruktiven Kritik. Es geht ihm, in bester ignatianischer Tradition, um die „Unterscheidung der Geister“. Welchem Impuls folgt eine Kritik? Sucht sie den Aufbau oder die Zerstörung? Wer diese Fragen als Kritiker wie Kritisierter nicht bedenkt, läuft Gefahr, dass Argumente ins Leere laufen, dass Grabenkämpfe entstehen, die Kommunikation gar vollends abbricht. „Die schlimmsten Kriege sind die Bürgerkriege“ kann Mertes formulieren. Seine Gedanken wollen für Klarheit auf nicht selten morastigen Wegen sorgen. Wie kommen wir also zu den Kriterien einer guten Kritik? Im ersten seiner drei „Anläufe“ interessiert Klaus Mertes die besondere Loyalität, die sich aus Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergibt. Der Autor blickt auf Mk 6,31-35, auf die Erwartungen, die Jesu Familie an ihren Sohn richtet, denen er aber, durchaus harsch, widerspricht. Diese scheinbare Illoyalität sieht Mertes in einer „höheren Loyalitätspflicht“ verortet, und im Konfliktfall „steht die universale Loyalität vor der besonderen Loyalität“. So sehr es die Familie, den „Clan“, auch schmerzen mag, dass eines der Mitglieder das altehrwürdige System unterläuft, so unerlässlich ist manchmal der Schritt über die Grenzen der eigenen Gruppe. Wenn sich Jesus den „Sündern“ zuneigt, die aus den üblichen Bezügen herausfallen, dann ist dieser Schritt der höchsten Loyalität geschuldet – dem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Mag der Clan dies in den praktischen Folgen als „Verrat“ an der eigenen Gruppe deuten, so darf sich der „Verräter“ dieser Logik nicht unterwerfen. Seine Perspektive ist die der „größeren Loyalität“. Nicht „aufheben“ wollte Jesus die Tora, vielmehr „erfüllen“ (vgl. Mt 5,17). Das gute Ziel vor Augen darf sich der Kritiker seine „Zugehörigkeit“ nicht absprechen lassen.

Der Ruf der „Nestbeschmutzung“ kann ihm entgegenschallen, auch die stupide Frage: „Warum trittst du nicht einfach aus?“ Der Kritiker, der um die Gründe seiner Zugehörigkeit weiß, wird solche Phrasen nicht internalisieren. „Nicht wegen dir“, entgegnete Bernhard von Clairvaux dem „Versucher“ auf seiner Schulter, „gehöre ich dazu, wegen dir werde ich auch nicht aufhören dazuzugehören“. Den zweiten Anlauf eröffnet Klaus Mertes mit einem Blick auf die berühmte Geisterfahrer-Anekdote: Steht nicht auch der Kritiker in der Gefahr, selbst der Geisterfahrer zu sein, vor dem er andere so eindringlich warnt? Die Antwort, so Mertes, „ist in dem Prozess zu suchen, den ein Mensch durchläuft, der aus innerer Zugehörigkeit heraus in einen öffentlichen Widerspruch zu seiner Gruppe, Kirche oder Gesellschaft tritt“. Selbstkritik lautet hier das entscheidende Wort. Man kann es mit einem Grundwort der Evangelien verbinden, mit metanoia, mit dem Ruf zur Umkehr, zum Umdenken. Der Jesuitenpater verweist auf seinen Ordensbruder Friedrich Spee (1591-1635), der nicht nur das Unrecht der Hexenprozesse anprangerte, sondern auch erkennen musste, dass er selbst, als Beichtvater der „Hexen“, ein Teil des Systems war. So hatte er sich zunächst vom alten Denken zu lösen, musste er sich freischwimmen, um schließlich zu entdecken, „dass hinter dem Schein hochgelehrter, professoraler Vernünftigkeit plumpe Irrationalität steht: Es gibt Hexenprozesse nicht deswegen, weil es Hexen gibt, sondern es gibt Hexen, weil es Hexenprozesse gibt. Die Vernunft ist es, welche Unvernunft entlarvt.“ Seriöse Kritik gründet somit in verlässlichen und selbstkritischen Urteilen über die Wirklichkeit. Dabei spielt nicht nur der Intellekt eine Rolle. In der Tradition der „Geistlichen Übungen“ des Ignatius von Loyola weist Mertes mehrfach darauf hin, dass Selbstkritik und Umkehr auch unsere Emotionen erfassen; dass sie von Gewissensschmerzen und Tränen, aber auch von Tröstungen und Eingebungen begleitet sind.

Ein blutleerer, eifernder Kritizismus, der sich aus Prinzip von jeglicher „Verstrickung“ freispricht, wird es schwer haben, die eigene Gemeinschaft zu erreichen. Demgegenüber gilt: „Der loyale Kritiker gehört bleibend dazu, auch wenn er sehend geworden ist für die Schattenseiten der Denkart, aus der er stammt.“ Auch in seinem dritten Anlauf übersieht Klaus Mertes nicht die emotionale Seite des Dilemmas: „Kirche und Papst lieben – und dennoch kritisieren.“ Der Leser mag zunächst stutzen ob der hohen Begrifflichkeit. Aber gerade die bitteren Verletzungsgeschichten und die zornigen Abschiede von „Mutter Kirche“ sind für den Jesuiten Anzeichen einer tieferen emotionalen Bindung an diese „Institution“. Wie der leiblichen Mutter, so verdankt der Christ auch der ecclesia etwas Grundsätzliches: die Evangelien, die Einübung in den Glauben, die Berührungen mit den Sakramenten. Wenn der Kritiker somit auf Missstände und Verfehlungen hinweist, so geschieht dies aus einer grundsätzlichen Dankbarkeit heraus. „Es widerspricht der Liebe zur Kirche keineswegs, auf das hinzuweisen, wofür man nicht dankbar sein kann, und zu korrigieren und zu reformieren, was in der Seelsorge schief läuft.“ Eine solche kritische, also unterscheidende, Haltung ist auch gegenüber dem Papstamt angemessen. An mehreren Beispielen aus der Kirchengeschichte weiß Mertes seine Aussage zu illustrieren. Wer Klaus Mertes’ „Widerspruch aus Loyalität“ liest und studiert, wird reich beschenkt. Die Skandale, die die katholische Kirche in den letzten Monaten erschüttert haben, machen es nicht nur ihren Feinden leicht, Kübel von Spott und Hass über sie zu gießen. Umso wichtiger ist eine Stimme wie die von Klaus Mertes, die sicherlich nicht ohne weiteres dem Ideal des „sine ira et studio“ entspricht, denn hierfür ist sie viel zu engagiert, zu entschieden „zugehörig“. Wenn aber der Jesuitenpater die Geister unterscheidet, dann ermutigt er beide Parteien: Der loyale Kritiker dürfe sich seinen Schneid und seine Vision nicht abkaufen lassen. Der Kritisierte müsse erkennen, dass eine Schweigespirale den Schaden vergrößere, nicht mindere. In aller Behutsamkeit darf sich auch der Leser in diese Arena stellen, in der er seinen Widerspruch wie seine Loyalität austarieren kann.

Christian Heidrich

Quelle: Eulenfisch Literatur 3 (2010), Heft 2, S. 14f. [Literaturbeilage von Eulenfisch. Limburger Magazin für Religion und Bildung]