Eine pädagogische Grundsatzerklärung

Buchvorstellung - 25.10.2010

Barbara Staudigl
Achtung vor dem Kind
Wie Lehrer ethisch handeln können

Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht. 2009
144 Seiten 14,90 Euro ISBN
978-3-525-70101-0

Der französische Philosoph Gabriel Marcel macht an einer Stelle seines Werkes „Etre et avoir“ darauf aufmerksam, dass es zwischen „denken“ und „denken an“ einen wesentlichen Unterschied gibt. Denken: das sei das Erkennen oder Herstellen einer Struktur, denken an: das sei etwas ganz anderes. In der deutschen Sprache findet Marcel eine Unterstützung seiner Überlegungen: die Worte „andenken“ und „Andacht“.

Das „Andenken“ in diesem Sinne vermeidet es, den oder das Gedachte als ein reines Objekt, als eine reine Struktur zu behandeln, sondern begegnet ihm. In diesem Sinne ist der vorliegende Band von Barbara Staudigl im besten Sinne ein pädagogisches Andachtsbuch in doppelter Hinsicht: Die Autorin schreibt hier von der Pädagogik fernab theoretischer Diskurse. Sie schreibt anschaulich, engagiert und aus einer Perspektive der Teilhabe, was ihr vor allem dadurch gelingt, dass sie zwei herausragende Persönlichkeiten, einen Erzieher und einen Philosophen, als Leitbilder ihrer pädagogischen Überlegungen auswählt.

Der eine, Janusz Korczak, gründete und leitete Waisenhäuser in Polen und wurde 1942 gemeinsam mit zweihundert jüdischen Kindern ermordet. Seinem pädagogischen Werk, vor allem dem Buch von 1929, „Das Recht des Kindes auf Achtung“ entnimmt Barbara Staudigl die Leitgedanken im ersten Abschnitt des Buches. Der zweite Abschnitt folgt einer Pädagogik der Verantwortung für den Anderen, die sich dem Denken von Emmanuel Lévinas verpflichtet weiß. Der Spur des Anderen zu folgen, sich auf diese Spur einzulassen, ist für den Pädagogen eine beständige Herausforderung. In einem dritten Abschnitt bietet die Autorin Impulse für ethisches Handeln im Schulalltag.

Was aber noch wichtiger ist und das Buch zu einer Anleitung des „An-Denkens“ im genannten Sinn werden lässt, ist die Haltung, die Barbara Staudigl gegenüber den eigentlichen Hauptpersonen der pädagogischen Arbeit einnimmt und zu der sie den Leser einladen will: Kinder als Subjekte des Bildungsgeschehens anzunehmen, ihnen mit Achtung zu begegnen, mit Achtung vor ihrer Erkenntnisarbeit, ihrem Bedürfnis nach Zusammenarbeit, mit Achtung vor ihren Erfolgen und Misserfolgen, vor ihren Geheimnissen und vor der schweren Arbeit des Wachsens: Das sind einige der Überschriften, unter denen die Autorin ihr Anliegen verdeutlicht und mit konkreten Anregungen zur schulischen Praxis ergänzt.

Es ist eine pädagogische Grundsatzerklärung, die in wohltuender Weise, an manchen Stellen vielleicht mit einem predigenden Unterton, die mäandernden pädagogischen Diskussionen zurechtrücken möchte. Die achtsame und achtungsvolle Begegnung mit dem Kind als Grundlage des gesamten Bildungs- und Erziehungsprozesses darf ruhig einmal so eindringlich in Erinnerung gerufen werden. Da schadet es nichts, wenn Lehrerinnen und Lehrer bei der Konkretisierung dieses Vorhabens an die Grenzen des Schulalltags erinnert werden. Sie werden vielleicht wieder neu aufmerksam auf die wertvolle Arbeit des Bildens und Erziehens und werden in einem Anliegen und Ideal ermutigt, das möglicherweise einmal ihre Berufswahl bestimmt hat.

Peter-Felix Ruelius

Quelle: Eulenfisch Literatur 2 (2009), Heft 1, S. 34. [Literaturbeilage von Eulenfisch. Limburger Magazin für Religion und Bildung]