Klaus Wengst
„Freut euch, ihr Völker, mit Gott!“
Israel und die Völker als Thema des Paulus. Ein Gang durch den Römerbrief
Stuttgart: Kohlhammer 2008
469 Seiten, € 34,00
ISBN 978-3-17-019704-6
Mit seinem Römerbriefkommentar bekennt Klaus Wengst, emeritierter Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum und Übersetzer der Apostelgeschichte für die „Bibel in gerechter Sprache“, einmal mehr Farbe: Wengst liest den Röm pointiert aus der Sicht der „Neuen Paulus-Perspektive“, die das zentrale Thema der paulinischen Theologie nicht (wie Luther) in einer anthropologisch verstandenen „Rechtfertigung allein aus Glauben“ sieht, sondern in der Überzeugung, dass den nichtjüdischen „Völkern“ durch den Messias Jesus ein Zugang zum Gott Israels ohne Übertritt zum Judentum eröffnet wird.
Bevor sich Wengst an seinen „Gang durch den Römerbrief“ macht, geht er ausführlich auf forschungsgeschichtliche Fragen ein und verortet sein Bild von Paulus und der „Heidenmission“ in der exegetisch-theologischen Diskussion. In einem ersten Teil diskutiert Wengst zunächst den „antijüdischen Schatten protestantischer Paulusauslegung“ (13-65). Dabei geht er u.a. auf die Verzerrungen des antiken Judentums als einer auf Werkgerechtigkeit beruhenden Gesetzesreligion, die das Paulusbild bis heute maßgeblich prägen, u.a. bei Luther, Billerbeck und Bultmann ein. Auch neuere Arbeiten beurteilt Wengst diesbezüglich kritisch: Die Paulus-Monografien von J. Becker (1989) und U. Schnelle (2003) sowie einen Artikel von J. Frey (Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen 2006, 5-43) diskutiert er unter der Überschrift „Moderat auf altem Wege weiter“ (47-56).
Im zweiten Teil skizziert Wengst sein eigenes Paulusbild (69-100), wobei er Paulus nach Gal 1,13ff als jüdischen „Eiferer um Gott“ und, nach seiner Berufung, als „Apostel für die Völker“ versteht. Dabei ist der „Eifer“, der Paulus vor seiner Berufung zur gewaltsamen Verfolgung von jüdischen JesusanhängerInnen veranlasst, nach Wengst nicht einfach darin motiviert, dass diese allgemein gegen die Tora verstoßen oder einen umstrittenen Messias verkündet hätten, sondern in der Tatsache, „dass sich [jesusmessianische] Juden und Jüdinnen durch Verbindungen mit der nichtjüdischen Welt dazu bewegen ließen, Aspekte spezifisch jüdischer Lebensweise zu vernachlässigen (…) Er [Paulus] sah in dem Zusammenleben von Juden mit Nichtjuden unter nichtjüdischen Bedingungen eine Verletzung jüdischer Integrität und die Aufgabe jüdischer Identität; und da diese Identität durch das Befolgen der Gebote Gottes gewonnen wird, ist ihre Aufgabe zugleich Abfall von Gott“ (90).
Im dritten Teil (101-135) zeichnet Wengst unter der Fragestellung „’Jüdisch leben’ oder ‚nach Art der Völker leben’?“ dieses Zusammenleben von Jüdinnen und Juden sowie Menschen aus den nichtjüdischen „Völkern“ in frühchristlichen Gemeinden, speziell in Antiochien, nach. Dabei arbeitet er u.a. anhand von Apg 15 und Gal 2 verschiedene Phasen heraus (worin er z.B. mit U. Schnelle übereinstimmt): Beim Treffen der Delegation der Gemeinde von Antiochien mit den Jerusalemer Autoritäten sei ohne weitere Auflagen bestätigt worden, dass Jesus-AnhängerInnen aus den „Völkern“ nicht zum Judentum übertreten und sich die Männer also nicht beschneiden lasen mussten. Später sei es jedoch zu den Bestimmungen des sog. „Aposteldekrets“ gekommen, die Wengst vorsichtig auf Jakobus zurückführt und als „Zusammenleben unter jüdischen Bedingungen“ kennzeichnet (Apg 15,20.28, S. 114-117). Er betont, dass es sich dabei nicht um eine Entscheidung über die Heilsbedeutung der Tora gehandelt habe, sondern über die Minimalbedingungen des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden in Anlehnung an Lev 17f: Die Bestimmungen aus Lev 17f galten nach der Tora auch für die im Land Israel lebenden Fremden, damit sich Juden nicht im Kontakt mit ihnen verunreinigten. „Noch einmal: nicht ‚heilsnotwendige’ Dinge [wurden den Jesus-AnhängerInnen aus den „Völkern“ in Apg 15,20.28 auferlegt], sondern solche, die es im Zusammenleben mit ihnen Jüdinnen und Juden erlauben, ihre jüdische Identität wahren zu können und nicht ihnen Gebotenes übertreten zu müssen“ (116). Nicht im Zusammenhang mit dem Jerusalemer Treffen, sondern erst wegen des „Aposteldekretes“ kam es nach Wengst dann zum berühmten „antiochenischen Zwischenfall“ (Gal 2,11-14), bei dem Paulus wohl den Kürzeren zog (120f). Der weitere Verlauf der jesusmessianischen Mission habe dann u.a. in Galatien zu erneuten Forderungen nach einer Beschneidung von Gemeindemitgliedern aus den „Völkern“ (und damit zu einem Rückfall hinter die Vereinbarungen des Jerusalemer Treffens) geführt. Anlässlich dieses erneuten und verschärften Konfliktes habe Paulus dann auf einer grundsätzlicheren theologischen Ebene reagiert. Zu Gal 2,16ff schreibt Wengst :„Paulus will im Blick auf die galatische Situation offenbar die Ebenen der Soteriologie und der Organisation des Zusammenlebens in der Gemeinde nicht unterscheiden, sondern argumentiert von der soteriologischen Irrelevanz der jüdischen Lebensweise her, dass deshalb die nichtjüdischen Gemeindemitglieder keine Elemente jüdischer Lebensweise für sich übernehmen dürfen und dass jüdische Gemeindemitglieder mit ihnen nach Art der Völker zusammenleben sollen“ (125f).
Vor dem Hintergrund der so skizzierten Auseinandersetzungen um die jesusmessianische Mission unter Juden und Angehörigen der „Völker“ liest Wengst im vierten und grössten Teil seines Werkes nun den Röm (137-443). Er tut dies im Stil eines klassischen Kommentars, wobei er im Interesse einer klaren Darstellung seiner pointierten Perspektive „in keiner Weise [beansprucht], auch nur grob über die Auslegungsgeschichte sowie über die gegenwärtige Diskussion und die in ihr gesehenen Probleme zu informieren“ (137). Wengst gliedert den Röm weitgehend anhand der üblicherweise herangezogenen Textsignale, wobei die Überschriften, die er den jeweiligen Briefteilen zuordnet, seinen Interpretationsansatz über die „klassischen“ Positionen hinaus verdeutlichen: Briefeingang (1,1-17) – Negative Aufhebung des Unterschieds zwischen Israel und den Völkern: Alle sind unter der Sünde (1,18-3,20) – Positive Aufhebung des Unterschieds zwischen Israel und den Völkern: Gott erweist seine Gerechtigkeit auch den Völkern (3,21-8,39) – Die bleibende Besonderheit Israels im Verhältnis zu Gottes Handeln im Gesalbten Jesus (9,1-11,36) – Bewährung des Miteinanders im Leben (12,1-15,6) – Fazit (15,7-13) – Briefschluss (15,14-16,23). Auffällig an dieser Gliederung ist v.a., dass Wengst die Verse 15,7-13 in Weiterführung des Röm-Kommentar von K. Haacker (Leipzig 32006) nicht nur als Abschluss des paränetischen Teils (Kap. 12-15) versteht, sondern als Fazit des gesamten Briefkorpus. Dabei übersetzt er – wiederum mit Haacker und der Elberfelder Übersetzung, aber gegen die meisten anderen deutschsprachigen Übersetzungen – den bekannten Vers 15,7 mit: „Deswegen: Nehmt einander auf, wie auch der Gesalbte euch aufgenommen hat – zum Lobe Gottes“ (Hervorhebung D.H.). Wengst: „Das ist nicht nur eine Aufforderung zu gegenseitiger Akzeptanz, sondern auch zu realer Aufnahme in die Häuser, wobei besonders an die Versammlung der Gemeinde gedacht sein dürfte, die ja in Privaträumen stattfand“ (420). Als Fazit des gesamten Briefkorpus gelesen, bringt 15,7-13 die paulinische Position zum Verhältnis zwischen Israel und den Völkern angesichts des für Paulus bereits gekommenen Messias zum Ausdruck: „Israel und die Völker stehen zusammen im Lob Gottes – der Unterschied ist aufgehoben –, aber an der Besonderheit Israels wird festgehalten, die für Israel spezifischen Verheißungen bleiben in Kraft und werden gerade auch von dem Gesalbten bestätigt, der die Völker zum Lob des Gottes Israels bringt“ (423). Dieses Beispiel steht für eine Vielzahl weiterer Stellen, an denen Wengsts Röm-Deutung theologisch und christologisch weitreichende Akzentverschiebungen im Sinne der Neuen Paulus-Perspektive vornimmt. Die „Werke des Gesetzes“ (érga nómou) in Röm 3,20 beispielsweise, die allzu oft als Beleg für eine angebliche jüdische „Werkgerechtigkeit“ herhalten mussten und damit einem Zerrbild des Judentums Vorschub geleistet haben, in dem man sich die Gnade Gottes durch Einhaltung der Tora „verdienen“ könne, versteht Wengst als „die von der Tora gebotenen (religiösen) Praktiken“ wie Beschneidung und die Speisegebote, ohne dies jedoch mit der traditionellen Unterscheidung zwischen „kultischer“ und „ethischer“ Tora zu identifizieren (187). Die vieldiskutierte Aussage über Christus als télos der Tora in Röm 10,4 interpretiert Wengst – wieder im Anschluss an K. Haacker – als Ziel und nicht als Ende des Gesetzes, wie es fast sämtliche Übersetzungen immer noch tun (Ausnahme: BigS 2006; unentschieden bleibt die Zürcher Bibel 2007): „Ziel der Tora nämlich ist der Gesalbte zur Gerechtigkeit für alle, die vertrauen“ (330). Und zu 9,6b verteidigt Wengst seine bereits früher vorgebrachte, kontrovers diskutierte These, dass der Satz nicht als Aussage zu verstehen sei („Denn nicht alle aus Israel sind Israel“), sondern als rhetorische Frage mit genau umgekehrter Bedeutung: „Sind denn nicht alle aus Israel eben Israel?“ (293). Dass diese Interpretation enorme Konsequenzen für das Verständnis von Röm 9-11 hat, liegt auf der Hand.
Im letzten, kurzen Teil seines Buches (445-448) äußert sich Wengst über „Israel und die Völker: Die universale Bedeutung des partikular Besonderen“ (445). Dabei wendet er sich u.a. gegen eine auch in der zeitgenössischen philosophischen Auseinandersetzung mit Paulus, z.B. bei A. Badiou, anzutreffende Tendenz, in der paulinischen Theologie die „Begründung des Universalismus“ zu sehen (446). Wengst hält demgegenüber an der Besonderheit Israels und der bleibenden Verwiesenheit des Christentums auf seine besondere Beziehung zu Israel und der Tora fest: „Paulus, der Jude, wurde – als Jude! – zum Apostel für die Völker. Dass sein zentrales Thema das Verhältnis von Israel und den Völkern ist, darf nicht unter das Oberthema ‚Partikularismus und Universalismus’ gestellt werden. (…) Die Besonderheit Israels in seiner Beziehung zu Gott gilt Paulus nicht als in einem allgemeinen Universalismus aufgehoben. Vielmehr ist Gott ‚im Gesalbten Jesus’ auch Gott für die Völker gerade als Israels Gott und in seiner bleibenden Bezogenheit auf Israel“ (446).
Fazit: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ ist der erste umfassende, deutschsprachige Versuch, den Römerbrief im Sinne der Neuen Paulus-Perspektive auszulegen und ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie neutestamentliche Exegese im besten Sinne im Angesicht Israels geleistet werden kann. Wengst zeigt auf, welche tiefgreifenden Neuansätze in zahlreichen exegetisch-theologischen Einzelfragen bis in den weitherum gewohnten Sprachgebrauch hinein nötig sind, wenn man Paulus im Sinne der (in der Forschung nicht unumstrittenen) Neuen Paulus-Perspektive verstehen will: Dass die Redewendung „vom Saulus zum Paulus werden“ die Berufung des Paulus zum Völkerapostel grob verzeichnet und Paulus unsachgemäß dem Judentum kontrastiert (69), spricht sich zwar allmählich herum. Darüber hinaus wendet sich Wengst aber z.B. auch nachdrücklich gegen die Bezeichnung des Paulus als „Christ“ („Ist somit einmal herauszustreichen, dass Paulus selbst sich zeitlebens als Jude verstanden hat, so ist von der anderen Seite her zu betonen, dass das Wort ‚Christ’ bei ihm nicht vorkommt, ebenso wenig wie die Worte ‚christlich’ oder ‚Christentum’“, 70) und lehnt auch die von der feministischen Forschung (L. Schottroff u.a.) schon länger kritisierte Rede vom Juden- und Heidenchristentum und von der angeblich „gesetzesfreien Heidenmission“ ab („Man kann daher von einem ‚beschneidungsfreien Evangelium’ des Paulus für die Völker sprechen, (…) nicht jedoch von einem ‚gesetzesfreien Evangelium’ oder von ‚gesetzesfreier Heidenmission’. (…) Die Verneinung der Beschneidung für hinzukommende Nichtjuden bedeutet keineswegs zugleich eine Verneinung der Tora für sie“, 110f). Zu wünschen ist diesem außerordentlich anregenden Werk deshalb zweierlei: Erstens – natürlich –, dass es eine breite Rezeption in Exegese und Theologie findet, die nicht auf universitärer Ebene stecken bleibt, sondern sich auch in Predigten und Katechese niederschlägt. Zweitens aber auch, dass mit Hilfe dieses Werkes ein christlich-jüdisches Gespräch über den Römerbrief möglich wird. Schließlich steht die Wirkungsgeschichte des Röm nicht nur exemplarisch für katastrophale, ja tödliche antijüdische christliche Theologien, sondern auch für die Umkehr und Neuaufbrüche im Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen und dem Judentum, beispielsweise in der Erklärung „Nostra Aetate“ des 2. Vatikanischen Konzils
Detlef Hecking (2010)
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 8/2010