Zusammenhänge zwischen Israel und Kirche

Buchvorstellung - 07.07.2010

Rupert Feneberg
Die Erwählung Israels und die Gemeinde Jesu Christi
Biographie und Theologie Jesu im Matthäusevangelium (Herders Biblische Studien 58)

Freiburg/Br. Herder 2009
398 S. € 65,00
ISBN 978-3-451-30168-1

Wenn der Bund Gottes mit Israel nie gekündigt wurde – wie wir Christen inzwischen zu bejahen gelernt haben - und „wenn Jesus Jude war und immer geblieben ist“ (S. 384), dann ist nicht die „Judenfrage“, sondern die Frage nach der Existenz einer (heiden-)christlichen Gemeinde neben der Synagoge das eigentliche Problem, das einer Begründung bedarf. Diese bis heute nur unzulänglich gelöste schwierige Frage, die auch die Streitigkeiten um eine christliche „Judenmission“ oder um die Neufassung der Karfreitagsfürbitte für den „älteren Usus“ umgreift, macht die Brisanz aus, die sich hinter dem sachlich-ruhigen Titel der Arbeit Fenebergs verbirgt.

Für den Autor stellt das Matthäusevangelium das Werk eines jüdischen Schriftgelehrten dar, der als Jesusanhänger sein Judentum nie aufgegeben hat und sich gerade so für die neu entstehende Gemeinde Jesu Christi einsetzt, in der sich Nichtjuden unter dem Wort Gottes jenseits der Synagoge versammeln. Für diese neue Gemeinde, die „nicht die Synagoge als Ort der Sammlung Israels ersetzen oder beerben“ will, sondern eine Art „Zweite Erwählung“ neben der weiter gültigen Erwählung Israels darstellt, wirbt Matthäus unter seinen jüdischen Kollegen um Toleranz und Akzeptanz, auch wenn er sich wohl schon auf der Verliererseite sieht. Indem er seine Darstellung des „Lebens Jesu“ unter „das Leitthema der Heidenfrage“ rückt, schreibt er faktisch für die Heidenchristen „die Gründungsurkunde“ ihrer Gemeinde und deren Beziehung zu Israel (S. 386f).

Auf welchen Wegen gelangt Feneberg zu seiner differenzierten These – zumal angesichts eines Evangeliums, dem generell antijudaistische Tendenzen auf der Basis eines bereits erfolgten Bruchs mit der Synagoge zugeschrieben werden? Seinen „Hermeneutischen Überlegungen zum Evangelium des Matthäus“ (S. 11-95), die seine Einzelkommentierung des Evangelientextes grundieren (S. 96-382), steht daher die provozierende Frage voran: „Gibt es diesen Antijudaismus im Matthäusevangelium überhaupt? Oder stammt dieser Antijudaismus nur aus der Auslegungsgeschichte des Evangeliums, in der die Situation des Matthäus und seiner Gemeinde einseitig und nicht zutreffend beschrieben wird?“ Der methodische Ausgangspunkt für Fenebergs Neuinterpretation wurzelt in seinem konsequenten Bemühen, das Evangelium „narrativ-synchron“ zu lesen und den Text in seiner Abfolge prinzipiell für „suffizient“ zu halten, d.h. vorauszusetzen, dass der Verfasser an jeder Stelle seiner Schrift „alles gesagt hat, was er bis dahin zum Verständnis sagen wollte und musste“. Nicht die Traditionsgeschichte einer einzelnen Perikope steht bei diesem Verfahren im Vordergrund, sondern deren Funktion in der Gesamterzählung. Wenn man so im Text des Evangeliums mehr als eine Ansammlung einzelner Perikopen sieht, die nur redaktionell lose zusammengehalten werden, geraten viele Einzelbeobachtungen, die sich auch bei anderen Auslegern finden, in einen neuen Zusammenhang oder erfahren eine veränderte Gewichtung. Dies macht Feneberg an vielen Stellen deutlich, indem er sich kritisch auf die Kommentare von J. Gnilka, U. Luz und R. Schnackenburg bezieht, die mehr oder minder deutlich die Ablösung Israels durch die Kirche vertreten, bzw. auf diejenigen von P. Fiedler und H. Frankemölle, für die zwar der Bund Gottes mit Israel weiterhin gilt, das Hinzukommen der Heidenchristen aber das ungelöste Problem darstellt. Nur wenn man das Evangelium entschlossen synchron lese, so der Autor, werde „die Konstruktion der Geschichte Jesu“ durch den Evangelisten sichtbar und eine Interpretation des ganzen Evangeliums auf sein „Leitthema: die Heidenfrage“ hin möglich (vgl. S. 73f, 96f).

Bei einer solchen anders als üblich ansetzenden Lektüre erweist sich zunächst die Erkenntnis als zentral, dass Jesus nicht nur seiner Abstammung nach, sondern auch theologisch Jude war und immer geblieben ist. Wie sehr sich Jesus ganz dem unwiderruflichen Bund Gottes mit Israel zugehörig wusste, äußert sich in Feststellungen Fenebergs wie diesen: dass Jesus nach Matthäus „nie den Tempel mit seinen Opferriten oder die Synagoge als Orte des Gottesdienstes und des Gebetes abgelehnt“ hat (S. 19), „sich nirgends über seine (sc. die alttestamentliche) Bibel gestellt und sie verändert oder korrigiert“ hat, „sich auch nie über Mose gestellt“ hat, „insofern Mose eine Chiffre für das Wort Gottes am Sinai ist“ (S. 23). Und wenn im Ersten Evangelium der Täufer Johannes und Jesus die gleich lautende Botschaft ausrufen: „Kehrt um! Denn genaht ist das Königtum der Himmel“ (3,2 und 4,17), dann verkündet nach ihm Jesus „kein anderes Evangelium als Johannes“. Denn: „ Ein anderes Evangelium kann es gar nicht geben. Man muss im Sinn des Matthäus die gewohnte Perspektive umkehren: Nicht Johannes redet wie Jesus, sondern Jesus redet wie Johannes.“ (S. 142) Ähnliches gilt im Blick auf das erste Wort Jesu im Matthäusevangelium überhaupt, die Reaktion Jesu auf das Widerstreben des Täufers, ihn zu taufen: „Lass es! Jetzt! Denn es kommt uns zu, alle Gerechtigkeit zu erfüllen“ (3,15): Beide wissen sich je auf ihre Weise dazu gesandt, „alle Gerechtigkeit zu erfüllen“, d.h. vorbehaltlos die Tora zur Geltung zu bringen (S. 145). Gleiches gilt für „die Tora in der Auslegung Jesu“, wie sie die Bergpredigt bietet: Nicht um „eine andere größere oder bessere Gerechtigkeit als die der Schriftgelehrten und Pharisäer“ geht es hier Jesus, sondern um eine, die „mehr ins Leben überfließen“ muss, als dies oft bei den Lehrern Israels der Fall ist (5,20). Denn nur eine Gerechtigkeit, die „Gesetz und Propheten“ entspricht (5,17; 7,12), kann es für Jesus überhaupt geben (S. 169-171); und Jesu Zuhörer reagieren am Ende bestürzt (7,28f), „nicht weil er inhaltlich Neues gesagt hat, sondern weil er mit Macht gesprochen hat“ (S. 190).

Wird so Jesus mit seiner Botschaft ganz im Judentum eingebettet gesehen, dann drängt sich umso stärker die Frage auf, wie es dazu kam, dass zu der Zeit, in der Matthäus sein Evangelium schreibt, bereits heidenchristliche Gemeinden neben der Synagoge entstanden waren. Wo in der messianischen Sendung Jesu liegt der Ansatz für diese spätere Entwicklung? Die Antwort Fenebergs unter Berufung auf Matthäus: „Es handelt sich um Jesu – in den Augen seiner jüdischen Gegner übertriebene und deshalb jüdische Identität gefährdende – Botschaft von der außerordentlichen Liebe Gottes zu den Fremden“, die Jesus lebt und bezeugt (S. 36). Doch solche Offenheit für die Fremden ist für die biblische Tradition nicht neu, sondern wurzelt in der Mitte der Tora (Lev 19,18.33f). Israels Erwählung durch Gott ist von Anfang an zugleich Erwählung für die Welt: Auch die Heidenvölker „sollen sich Segen holen“ an Abraham und seinen Nachkommen (Gen 12,3c). Hatte bereits das Markusevangelium in der Betonung der Fremdenliebe Jesu ein Hauptkennzeichen seines Lehrens und Wirkens gesehen (vgl. R. Feneberg, Der Jude Jesus und die Heiden. Biographie und Theologie Jesu im Markusevangelium (HBS 24), Freiburg 2000), so verfasste Matthäus rund fünfzehn Jahre nach Markus, obwohl er dessen Schrift kannte, ein neues Evangelium mit einer veränderten Zielsetzung , weil es jetzt „nicht mehr nur um die Zulassung von Heidenchristen und die Tischgemeinschaft mit ihnen ging, sondern um eine inzwischen eigenständige heidenchristliche Gemeinde an der Seite und neben der Synagoge“, die dort immer mehr als Konkurrenz und Bedrohung der eigenen Identität wahrgenommen wurde (S. 68). Die Klärung der Beziehung dieser neuen Gruppierung zur Synagoge musste somit zum Hauptanliegen des Matthäus in seinem Evangelium werden.

Stehen für das Matthäusevangelium die Verankerung Jesu in der Erwählungsgeschichte Israels und der heilsgeschichtliche Vorrang Israels von Anfang an fest (vgl. 1,1-17), so weisen die vier heidnischen Frauen, die im „Stammbaum Jesu“ genannt werden, schon leise darauf hin, dass die Partikularität der Erwählung Israels immer schon auf die Universalität der Erlösung aller Völker zielt. Im Zug der Weisen aus dem Osten deutet sich ebenso an, dass der Christus Israels zum Segen auch für die Heiden werden wird (2,1-12), wie auch im Kommen Jesu nach Kafarnaum, das Wort des Propheten Jesaja erfüllend, über dem „Galiläa der Heiden“ ein „gewaltiges Licht“ aufscheint (4,15f). Und unter den „Scharen“, die Jesus auf Grund der Kunde von ihm, die „bis nach ganz Syrien“ drang, nachziehen und immer wieder zu Zeugen seines Worts und seiner Heilungskraft werden (vgl. 5,1; 7,28; 8,1; 9,36; 12,15.23; 13,2.34; 14,13.19; 15,30.36), sind nicht nur Juden aus Galiläa, Jerusalem und Judäa zu sehen, sondern auch „Gottesfürchtige“ aus den heidnischen Regionen der Dekapolis und des Ostjordanlandes: auch sie „sind übel dran, mit mancherlei Gebrechen und Qualen behaftet“ und hoffen, von Jesus ohne Unterschied geheilt zu werden (4,23-25). Gerade in den Heilungswundern Jesu wird für Matthäus geradezu handgreiflich erfahrbar, wie trotz der vorrangigen Sendung Jesu zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (15,24) Heilung auch auf Heiden überströmt. Folglich kann er die drei Heilungen Jesu in 8,1-15, eine davon vollzogen am Kind eines heidnischen Hauptmanns, dessen „großen Glauben“ Jesus im Gegenüber zu Israel rühmend hervorhebt (8,5-13), zusammenfassend kommentieren: „Er machte alle heil, die übel daran waren, damit erfüllt werde das durch den Propheten Jesaja Gesprochene, der sagt: Er hat unsere Krankheiten weggenommen und unsere Gebrechen getragen.“ Wenn hier in Mt 8,16f gegenüber Markus betont wird, dass Jesus „alle“ heil machte, dann zielt dieses „alle“ in der Rückschau auf die an Juden wie an einem Heiden berichteten Heilungen nicht auf eine gesteigerte Zahl solcher Heilungswunder, sondern auf „das unterschiedslose Erbarmen Jesu, der sich aller annimmt, die übel daran sind“ (S. 195). Jesus erweist sich in diesem Sinn als der verheißene, sich aller erbarmende „Gottesknecht“ (Jes 53,4).

In dem folgenden Textabschnitt, der von 9,35 bis 16,20 reicht und den ersten Hauptteil abschließt, spitzen sich die Spannungen zwischen dem Sendungsanspruch Jesu und dem Widerstand und der Ablehnung seitens der Pharisäer und Schriftgelehrten zu – bis hin zur Ankündigung Jesu, eine eigene Gemeinde aus Heidenchristen aufbauen zu wollen. Im genauen Vergleich des Matthäustextes gegenüber seiner markinischen Vorlage kann Feneberg überzeugend die Offenheit Jesu für die Heiden als Kern dieser Auseinandersetzung aufzeigen. In seinem Mitleid angesichts der „Scharen“, die „ermattet und niedergedrückt waren wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (9,36), erweist sich dieser programmatisch als „Hirte Israels“, der sich gleichwohl auch für die Nichtjuden unter den Scharen verantwortlich sieht. Und selbst wenn die Jünger mit der Anweisung ausgesandt werden: „Geht nicht zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6), dann sieht Feneberg darin keine Abwendung Jesu von den Nichtjuden, sondern die Anerkennung des Erwählungsvorrangs Israels. Doch wenn Israel in Wahrheit zu Gott umkehrt, dann wird Israel auch für die Heiden zum Segen werden (vgl. 15,21-28).

Genau an diesem Punkt entzündet sich der letztlich tödliche Konflikt mit den Pharisäern und Schriftgelehrten: Hatten diese zunächst Jesus beobachtet und sich über ihn ihre Gedanken gemacht (9,3f) und sachlich-kritische Fragen gestellt (9,11) und dann begonnen, seine Heilungskraft als dämonisch zu diffamieren (9,34), so steht jetzt am Ende der beiden Sabbatkonflikte, in denen Jesus eine „milde“ Gesetzesauslegung vertritt (vgl. 12,1-8.9-13), der Beschluss der Pharisäer, ihn zu „verderben“ (12,14). Im Anschluss daran bekennt sich Jesus erstmals unter Berufung auf Jes 42,1-4 ausdrücklich dazu, dass sein geistmächtiges Wirken zum Hoffnungszeichen auch für die Heiden wird: „Er wird den Völkern das Recht bringen …, und auf seinen Namen werden die Völker hoffen“ (12,18-21). Durch die Frage der Scharen: „Ist der nicht doch der Davidsohn?“, wird der Konflikt weiter vorangetrieben, was die erneute Dämonisierung des Wirkens Jesu durch die Pharisäer auslöst (12,23f). Jesus kontert mit der Gegenfrage: „Wenn ich mit Beelzebul die Dämonen austreibe, durch wen treiben sie dann eure Söhne aus?“ und stellt solcher Verdächtigung seinen Sendungsanspruch entgegen: “Wenn ich aber mit Gottes Geist die Dämonen austreibe, dann ist das Königtum Gottes zu euch gelangt“ (12,27f). Auf die Forderung nach einem „Zeichen“, die einige der Schriftgelehrten und Pharisäer an Jesus richten, reagiert er, indem er an den Propheten Jona erinnert, auf dessen Predigt hin die Männer Ninives umkehrten, und an die Königin des Südens, die von den Enden der Erde kam, um Salomos Weisheit zu hören (12,38-42). Fenebergs Kommentar: „Die Pharisäer verstehen natürlich, dass Jesus mit diesen Vergleichen auf die Heidenfrage anspielt. Sie wissen, was Jesus vertritt: Der Bund Gottes mit Israel betrifft auch die Heiden, ohne dass die Erwählung Israels dadurch aufgegeben oder nivelliert würde.“ Jesus wird von ihnen „nicht deshalb abgelehnt, weil er sich für den Sohn Davids hält oder weil er von den Scharen dafür gehalten wird“, sondern „weil er der Sohn Davids sein will, der zuletzt sogar den Heiden Hirte ist und ihnen mit dem Jesajazitat Hoffnung zuspricht“ (S. 243). Den Vorwurf, dass seine Jünger mit ungewaschenen Händen Brot essen und damit „die Überlieferung der Alten übertreten“, kontert Jesus, indem er zeigt, wie seine Gegner selbst „Gottes Wort entmachten“ und, was sie lehren, „Menschensatzungen“ sind und sie so zu „blinden Führern von Blinden“ werden (15,1-9.14). Jesus warnt schließlich seine Jünger vor dem „Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer“ (15,11), was nach Feneberg heißt: nicht vor ihrer Auslegung der Tora (vgl. 23,2f), sondern „vor ihrer Einstellung zu seinem Umgang mit Nichtjuden und vor der Dämonisierung seiner Wundermacht“ (S. 254f).

Dieser unüberwindbar erscheinende Konflikt mündet in die Ankündigung Jesu, eine eigene Gemeinde für umkehrwillige Heiden aufbauen zu wollen (16,18f). Dieser Schritt kommt nicht überraschend, sondern ist längst vorbereitet. Auch die Jünger wissen um den Anstoß wegen der Heidenfrage, der die Sendung Jesu, aber auch sie als seine Jünger betrifft. In seinem Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, das Petrus im Namen aller Jünger ablegt, ist daher das Ja zur Sendung Jesu als dem Hirten Israels eingeschlossen, der auch den Heiden Hilfe und Heilung gebracht hat. Jesus kündigt in seiner Antwort an, dass er für seine nichtjüdischen Anhänger auf Petrus „seine Gemeinde bauen“ werde, die „neben der ersten Erwählung und nicht an ihrer Stelle steht“; in ihr soll Petrus mittels der ihm übertragenen „Schlüsselgewalt“ (16,19) all die Fragen regeln, die in der neu entstehenden Gemeinde zu entscheiden sind und die in der etablierten Synagoge längst grundsätzlich geregelt waren (S. 259-263). - In 20,28 deutet Jesus in Anspielung auf den Schluss des vierten Liedes vom Gottesknecht seinen Tod als „Ersatzgabe anstelle der Vielen“. Wer sind diese „Vielen“? Für Feneberg als Konsequenz seiner bisherigen Interpretation: „Die ´Vielen´ sind exklusiv nur die Heiden, denen ein zweiter Weg der Erwählung durch die Lebenshingabe Jesu eröffnet wird“ (S.295).“ Die Juden sind nur deshalb nicht mit genannt, weil ihre Ersterwählung durch die zweite Erwählung nicht aufgehoben wird.
- Auch das Kelchwort beim Letzten Abendmahl (26,28) ist in derselben Richtung zu deuten: Wenn Jesus seine Jünger auffordert: „Trinkt aus ihm alle!“, dann sind mit „alle“ nur die Zwölf gemeint. Und wenn er dann diesen Becher mit Wein als sein „Blut des Bundes“ bezeichnet, das „rings um die Vielen zum Nachlass der Sünden ausgegossen“ wird, dann sind auch hier mit den „Vielen“ nicht die anwesenden Jünger, sondern Heiden im Blick, Menschen also, die nicht schon von sich aus dem Bund Gottes mit Israel angehören. Die Jünger als Juden haben dagegen schon immer Anteil am „Bundesblut“, mit dem Mose am Sinai das ganze Volk besprengt und seine Erwählung besiegelt hat (vgl. Ex 24,8). Mit dem Trinken aus dem Becher werden die Zwölf in die Sendung Jesu eingebunden, auf Grund derer Jesus sein eigenes Blut als „Blut des Bundes“ im Dienst an den „Vielen“ vergießt. Ihnen, den Nichtjuden, wird durch das Bundesblut Jesu ein eigener Bund zugeeignet. (S. 361); Feneberg merkt (ebd. Anm. 38) an, dass diese Differenzierung gilt, solange die Jünger noch Mitglieder der Synagoge waren. „Danach richten sich die Abendmahlsworte als Einladung zum ´neuen Bund in meinem Blut´ (vgl. Lk 22,20) an die Zwölf gemeinsam mit den ´Vielen´. Gemeinsam sollen sie im Gedächtnis an den Tod Jesu das Herrenmahl feiern.“ - In 28,16-20 wird schließlich ein letzter Schritt vollzogen: Jesus ruft seine Jünger zur Mission an den Heiden selbst auf, aber nicht mit dem Ziel, dass Heiden zu Juden, d.h. zu Proselyten werden sollen. Der Missionsauftrag an die Jünger bezieht sich somit nicht auf „alle Menschen“, sondern exklusiv auf „alle Völker“, d.h. auf die Heiden. Auf diese Weise soll eine eigene, zweite Erwählungsgemeinde neben Israel entstehen, die den Vorrang Israels und seiner Erwählung nicht antastet, sondern auf Dauer anerkennt. Sie soll letztlich Israel dazu führen, dass es seiner universalen Erwählung gemäß zu leben beginnt. (S. 380f, vgl. 221) Für beide Gruppen, Juden wie Nichtjuden, bleibt die Notwendigkeit der Umkehr bestehen, um wahre Kinder Abrahams zu sein (vgl. 3,8f, 8,11f, 25,31¬46).

Fazit: Rupert Feneberg, emeritierter Neutestamentler an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, hat mit seinem in bewundernswerter Konsequenz entwickelten Werk seinen Kollegen Exegeten einen schweren Brocken vor die Füße gelegt und ein intensiveres Nachdenken über die Zusammenhänge zwischen Israel und Kirche angestoßen. Auch unser eigenes eingespieltes Verständnis des Matthäusevangeliums wird hier massiv angefragt, zumal unsere gängige Sicht von Kirche, Abendmahl und Missionsauftrag.

Was wäre der Gewinn dieser alternativen Deutung, die im Evangelium primär ein Angebot für uns Menschen aus den Völkern sieht, „als Christen und im Namen Jesu Christi dem Gott Israels zu begegnen und ihn zu hören“? Der Autor formuliert die Antwort selbst (S. 388): „Christen müssen dazu nicht Juden werden, genauso wie Juden nicht Christen werden müssen. Christen müssen nicht Juden werden, weil sie durch Jesus schon ´Adoptivkinder´ und folglich auch ´Miterben´ geworden sind. Juden müssen nicht Christen werden, weil sie als ´natürliche Zweige´ an dem edlen Ölbaum schon immer aus derselben Wurzel wie der Jude Jesus leben und auf diese Weise mit ihm verbunden sind. Wenn Christen diesen natürlichen Vorrang anerkennen, können Juden ihrerseits wohl leichter annehmen, dass sich für Jesus die Gründung einer heidenchristlichen Gemeinde an der Seite der Synagoge aus der Tora selbst herleitet und ihr nicht widerspricht. Auf bestimmte Titel kommt es dabei nicht an. Jesus hat nicht verlangt, dass die jüdischen Lehrer ihn als ´Sohn Davids´ und als ´Christus´ anerkennen. Sie sollen nur mit Ps 118,26 zugestehen, dass er ´ím Namen des HERRN´ gekommen ist und gehandelt hat (Mt 23,3).“

Rolf Baumann (2010)
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 4/2010