Karin Finsterbusch
Weisung für Israel
Studien zu religiösem Lehren und Lernen im Deuteronomium und in seinem Umfeld (Forschungen zum Alten Testament, 44)
Tübingen: Mohr Siebeck 2005
349 S. € 99,00
ISBN 978-3-16-148623-4
Wie konnte das Judentum – seit zwei Jahrtausenden in alle Weltgegenden zerstreut – sein Selbstbewusstsein und seine Identität als Volk bewahren? Eine der entscheidenden Antworten auf dieses kulturgeschichtlich Staunen erregende Phänomen findet sich im fünften Buch Mose, dem Buch Deuteronomium. Am letzten Tag seines Lebens vermittelt Mose seinem Volk Israel vor dessen Einzug ins verheißene Land seine Weisheit, die göttliche Tora, in umfangreichen Reden.
Und er trägt dem Volk auf: „Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie aufsagen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst“ (Dtn 6,6–7). Auf diese und vielfältige andere Weise trägt Mose Israel auf, systematisch und über die Generationen und Zeiten hinweg seine von Gott empfangene Weisheit persönlich auswendig zu lernen und weiterzugeben, um danach zu handeln. So verwirklicht Israel, Gott zu lieben, wie Mose dem Volk aufträgt, „mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft“ (Dtn 6,5). Diese Kultur des liebenden Lernens hat das Judentum in seinen legendären Synagogenschulen über die Jahrtausende hinweg gepflegt. Nur so konnte es seine Identität als „Gottes Volk“ bewahren. Unter dieser Rücksicht kann das Judentum für das gegenwärtige Christentum nur ein leuchtendes Vorbild sein. Es beweist, welche kulturelle Kraft ein intelligenter, den ganzen Menschen ansprechender Religionsunterricht entfalten kann. Der Religionsunterricht des Judentums hat eine Lerngemeinschaft geschult, aus der unzählige überaus bedeutsame Wissenschaftler und Philosophen wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Edmund Husserl, Sir Karl Popper oder Emmanuel Levinas hervorgegangen sind. Arbeiten wir Christen mit vergleichbarem Einsatz und Niveau an unserem Religionsunterricht? Fördern unsere staatlichen Schulen eine solche gesamtmenschliche Bildung?
Auf dem Hintergrund richtungsweisender Arbeiten insbesondere des Deuteronomium-Experten Norbert Lohfink SJ (3) und des kulturgeschichtlichweitblickenden Ägyptologen Jan Assmann (vgl. dessen bekanntes Buch „Das kulturelle Gedächtnis“) profiliert Karin Finsterbusch in ihrer hier zu besprechenden Habilitationsschrift (2004 in Tübingen angenommen) die spezifische Lehr- und Lernkonzeption des Buches Deuteronomium, indem sie diese mit den Auffassungen religiösen Lernens und Lehrens in anderen biblischen Büchern vergleicht. In übersichtlicher Weise untersucht Finsterbusch zuerst einschlägige Aussagen bei den Propheten Jesaja (15–46) und Jeremia (46–81) sowie im Buch der Sprichwörter (82– 114), um dann im Hauptteil ihrer Arbeit die Lehrsystematik des Buches Deuteronomium darzustellen (115–314). Die knappe Zusammenfassung (315f) bringt die Hauptergebnisse der Untersuchung – wie auch sonst in angenehm lesbarem Stil – auf den Punkt. Bei Jesaja erscheinen vor allem Propheten und Priester als Verantwortungsträger für religiöse Lehre, und das Buch macht Hoffnung, Gott werde Israel und die Völker seine Weisheit lernen lassen (z. B. Jes 2,3–4; 54,13). Jeremia klagt das Lernen falscher Verhaltensweisen an (z. B. Jer 2,33) und kündet einen „neuen Bund“ an, aufgrund dessen Israel eine unmittelbare Herzens-Kenntnis der Tora erhält, die religiöse Lehre überflüssig macht (Jer 31,34). Das Buch der Sprichwörter versteht sich als Lehrbuch von Weisheit (Spr 1,1–7), und darüber hinaus kommen vor allem Eltern als Lehrende in Betracht (z. B. Spr 1,8–19). Obwohl diese drei Bücher religiöses Lernen stärker thematisieren als andere Bücher des Alten Testaments, spricht keines von ihnen vom gemeinschaftlichen Lernen des Volkes. Dies ist ein Spezifikum des Buches Deuteronomium. In ihm „erscheinen die Aussagen zu religiösem Lehren und Lernen ... als eigenständige, geschlossene Konzeption. Versammelt vor Mose in Moab bekommt Israel vor dem Einzug in das Land nach der deuteronomischen Fiktion ein neues Profil: Mose lehrt die Israelitinnen und Israeliten nach JHWHs Weisung in Bezug auf die deuteronomische Tora – dies ist die Geburtsstunde Israels als religiöser Lehr- und Lerngemeinschaft“ (316).
Finsterbusch stellt die einschlägigen Thematisierungen des Lehrens und Lernens in ihrer Reihenfolge im Buch Deuteronomium dar und folgt damit dessen eigener Logik. Aufgrund Gottes Lehrauftrag an Mose am Berg Sinai (in Dtn „Horeb“, Dtn 4,14, vgl. 5,31) vermittelt Mose Israel die göttlichen Gesetze und Rechtsvorschriften (Dtn 6,1, einleitend für Dtn 6–26). Das Volk Israel soll diese Lehre seinen Kindern weitergeben (vgl. bes. Dtn 6,7; 11,19; 32,46). Mose formuliert sogar wörtlich einen kleinen Bekenntnistext (Dtn 6,21–25), mit dem Eltern ihr nach der Bedeutung der Gesetze fragendes Kind (Dtn 6,20) ermutigen können, „sich als Teil des ‚Wir’ zu begreifen“, dem Gott die Gesetze aufgetragen hat (252, treffend analysiert). Auch der zukünftige König soll täglich die Tora lesen und so Gottesfurcht lernen (Dtn 17,19). In jedem siebten Jahr sollen die Levitenpriester und die Ältesten das Volk beim Laubhüttenfest zu einer Lerngemeinschaft versammeln und Tora vermitteln (Dtn 31,12). Auf diese Weise wird das Volk neu an die Urversammlung am Sinai erinnert, in der Mose das Volk versammelt hatte und Gott die Zehn Gebote lehrte (vgl. Dtn 31,12–13 mit 4,10). Diesen buchkompositorisch wichtigen Zusammenhang stellt Finsterbusch (291) leider weniger profiliert heraus, als dies Jean-Pierre Sonnet und Eckart Otto schon vor ihr dargestellt haben.
Finsterbuschs wissenschaftliche Darstellung präsentiert sich in einem klaren und sauber gearbeiteten Erscheinungsbild. Sie verzichtet auf unnötig verkomplizierende Fachbegriffe und ist daher für theologisch vorgebildete Leserinnen und Leser ein fundiertes und dennoch lesbares Werk. Einschlägige Fachleute werden berücksichtigen, dass die wissenschaftliche Sekundärliteratur nur bis März 2003, dem Zeitpunkt des Einreichens als Habilitationsschrift, berücksichtigt ist. Die Lernkonzeption des Deuteronomium hat in manchen Punkten ein noch stringenteres Profil, als dies Finsterbusch beschrieben hat, wie ich in meiner eigenen, derzeit entstehenden Habilitationsschrift zu zeigen versuche. Jedenfalls aber hat Finsterbusch für die Fachdiskussion die bisher umfangreichste Untersuchung zu diesem wichtigen Thema und damit einen bedeutsamen und nunmehr unverzichtbaren Beitrag vorgelegt.
Dominik Markl (2010)
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 4/2010