Michael Theobald
Das Evangelium nach Johannes Kapitel 1-12
(Regensburger Neues Testament)
Regensburg: Pustet 2009
903 Seiten, € 54,00
ISBN 978-3-7917-2062-3
Über ein halbes Jahrhundert nach der letzten überarbeiteten Auflage des Johannes-Kommentars von Alfred Wikenhauser ist jetzt in der Reihe „Regensburger Neues Testament“ der erste Teil eines neuen Kommentars zum Johannes-Evangelium, Kapitel 1-12, übersetzt und erklärt von Michael Theobald, erschienen.
Der Autor, Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, durch zwei große Monographien und viele Aufsätze zum Johannes-Evangelium als Experte ausgewiesen, legt hier eine „über Jahre hinweg“ gewachsene, wissenschaftlich fundierte Auslegung des ersten Teils des Vierten Evangeliums vor, die in ihrem Umfang und Gewicht fast den Rahmen der bewährten Kommentarreihe sprengt. Aber gerade so sollen deren Leserinnen und Leser zu einem theologischen Gespräch mit dem vorgegebenen Text befähigt werden.
Der Interpretationsansatz
In einem knappen Vorwort (S. 11f.) und in einer umfangreichen Einleitung (S. 13-99) legt der Autor die tragenden Erkenntnisse und Grundannahmen frei, die ihm aus seiner Arbeit am Text erwachsen sind und seiner Kommentierung zugrunde liegen. Besteht doch das Rätsel des Johannes-Evangeliums darin, dass es einerseits beansprucht, von einem Augenzeugen, einem mit Jesus besonders vertrauten Jünger, verfasst worden zu sein, und dass es andererseits ein Jesus-Bild vermittelt, das jenes der meisten anderen neutestamentlichen Schriften an „Kühnheit“ weit übertrifft: das Bild des „einzig geborenen“ Gottessohns, der aus einer vorzeitlichen, ursprünglich zu denkenden „Einheit“ mit seinem Vater lebt und wirkt. Angesichts dieser Spannung sucht Theobald einen Weg zwischen den möglichen Extremen, entweder sich mit der Auslegung des Endtextes im Sinne eines genialen Entwurfs eines frühchristlichen Autors zu begnügen oder die Historisierung des Evangeliums im Sinne eines authentischen Selbstzeugnisses Jesu zu favorisieren (wie dies z.B. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch tut). Gemäß dem Primat der Synchronie vor der Diachronie will Theobald zunächst die literarische Gestalt des Buches ernst nehmen; aber angesichts der erkennbaren Brüche und Kanten „zwingt“ der Text dazu, auch nach seiner „Vorgeschichte“ zu fragen: nach seinen Anknüpfungspunkten in der Frühzeit der christlichen Zeugen und deren Jesus-Erinnerung. Von diesem „mühseligen und hypothetischen Geschäft“ dürfe sich der Ausleger nicht dispensieren, wolle er die Verankerung des sich nach außen hin so zeitlos gebenden Buches in der Geschichte nicht ausblenden. Der „Illusion“ freilich, mittels einer solchen historisch-kritischen Vergewisserung die Wahrheit des Vierten Evangeliums ans Licht zu bringen, will der Kommentator nicht erliegen; vielmehr gehe es ihm darum, durch dessen geschichtliche Verortung „die Frage nach seiner Wahrheit für heute erst auf den Weg zu bringen“ (S. 11f.).
Das Evangelium als „dramatische Erzählung“
In der dicht geschriebenen „Einleitung“ vor der eigentlichen Kommentierung bereitet der Autor gleichsam den Boden, das Vierte Evangelium mit seiner hohen Christologie zu „erden“. In einem ersten Schritt hierzu sucht Theobald gleichsam von außen her den literarischen Charakter des Buches zu bestimmen (S. 14-29). Seine Grundthese lautet: „Das Johannesevangelium inszeniert das Wirken und Sterben Jesu in Form einer ´dramatischen Erzählung´.“ Zu einer „dramatischen Erzählung“ wird nach antiker Poetik eine Erzählung dadurch, dass der Autor die von ihm geschaffenen Personen in direkter Rede sprechen und wie auf einer „Bühne“ eigenständig agieren lässt. Das Spiel der Handlung in Raum und Zeit, ihre Personen wie auch ihre Dialoge sind daher zuerst, vor jeder historischen Rückfrage, als gezielte Konstruktion des Evangelisten wahrzunehmen. Aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren erschließt sich der Bauplan der „dramatischen Erzählung“, der dann in der Kommentierung Schritt für Schritt freigelegt wird: von der Bucheröffnung und den Anfängen des Wirkens Jesu über die sich zuspitzenden Konflikte mit den Pharisäern bzw. „den Juden“ bis zum Gesprächsabbruch in Kapitel 12. Dieses erste „Finale“ gliedert die „dramatische Erzählung“ des Evangelisten zugleich in zwei Teile: „Die Offenbarung des Sohnes vor der Welt oder: Jesu öffentliches Wirken in Israel“ (Joh 1-12) und „Die Offenbarung des Sohnes vor den Seinen oder: Der Hingang Jesu zum Vater“ (Joh 13-21).
Ihre “literarische Genese“
Dem Johannesevangelium darf man kein modernes Autorenkonzept unterstellen, als hätte hier ein „Verfasser“ seine „dramatische Erzählung“ ganz aus eigener Inspiration heraus frei geschaffen. Diese stellt zwar das Werk eines geisterfüllten frühchristlichen Lehrers dar, der sich aber in vielfältiger Weise der Jesus-Überlieferung vor ihm verpflichtet weiß. Ein „mehrschichtiges Modell“ solcher Überlieferungen und Vorlagen, die der Evangelist aufgreift und als Hauptautor seiner „dramatischen Erzählung“ dienstbar macht, rekonstruiert Theobald und legt es seiner eigenen Kommentierung zugrunde. Der zentrale Teil II der „Einleitung“ ist dieser „literarischen Genese“ der „dramatischen Erzählung“ gewidmet (S. 30-74); es folgen noch Bemerkungen zum Verhältnis des Vierten Evangeliums zu anderen Corpora des Neuen Testamentes (III), zur Frage des Autors (IV), zu Zeit und Ort der Abfassung des Evangeliums (V) und schließlich zum Umgang mit dem Kommentar (VI). Wesentliche Akzentsetzungen, die Theobalds Auslegung tragen, zumal bezogen auf das Christusverständnis des Vierten Evangelisten, seien hieraus vorgestellt:
„Herrenworte“ und „Zeichenquelle“
Es sind zunächst mündliche Überlieferungen, „Herrenworte“, wie Theobald sie nennt, die der Evangelist für seine „dramatische Erzählung“ aufgreift und nutzt: Worte mit synoptischen Parallelen, kreative Fortschreibungen von synoptischen Worten und spezifische Bildungen der johanneischen Gemeinden (z.B. Ich-bin-Worte wie 6,35; 8,12; 10,9; 14,6 oder Gleichnisse und Bildworte wie die vom Hirten, Weizenkorn, Weinstock). Ihnen verlieh der Evangelist im Rahmen der von ihm gestalteten Jesus-Dialoge den Rang von „Kern- oder Programmworten“; darauf weisen ihre zentrale Platzierung, ihre Markierung durch die Formel „Amen, Amen“ oder ihre Wiederholung hin. In einer dem Evangelisten schriftlich vorliegenden „Zeichenquelle“ sieht Theobald ein „ausgewachsenes Zyklus-Modell“ mit planvoll angeordneten „sieben Zeichen“, die durch Itinerare und wiederkehrende Personen miteinander verbunden sind. Diese (gegenüber den synoptischen Machttaten gesteigerten) Wunder Jesu stellen für die Zeichenquelle „eine Art Beweistum“ dar (ähnlich wie in Apg 2,22) und haben den Sinn, Jesus als den endzeitlichen Propheten auszuweisen. Für den Evangelisten jedoch, der diese „Zeichen“ aufgreift und seinerseits kommentiert, begründen und wecken diese Zeichen nicht den Glauben, sondern erst der durch Jesu Wort ermöglichte Glaube macht fähig, das jeweilige Zeichen zu verstehen. Auch die für den Evangelisten charakteristische Präexistenz-Christologie ist der Zeichenquelle noch fremd; für sie ist Jesus als der eschatologische Heilbringer „Sohn Josephs, der aus Nazareth“ ist (1,45). Die Träger der Zeichenquelle sahen sich noch der Synagoge zugehörig, und ihre „missionarische Werbeschrift“ wird ganz Israel gegolten haben, wenngleich sie wohl schon über dessen Grenzen hinausblickt (vgl. Joh 4). Darüber hinaus konnte der Evangelist auf eine ihm wahrscheinlich schriftlich vorliegende Passions- und Ostererzählung zurückgreifen. Dass er wesentliche Teile von ihr in die erste Hälfte seines Buches vorgezogen hat (z.B. die Tempelreinigung, die bereits in Joh 2,14-17 begegnet, Fragmente der Getsemani-Szene in 12,27f. oder das Verhör Jesu aus dem Prozess vor dem Hohen Rat in 10,22f.36), zeigt, dass schon die erste Hälfte des Evangeliums auf die Passions- und Osterüberlieferung zuläuft; die Erzählung von Tod und Erhöhung Jesu erscheint so als dessen „Fluchtpunkt“, der ihm die Perspektive von Anfang an vorgibt.
Die eigene Konzeption des Evangelisten
Für das theologische Konzept des Evangelisten selbst ist nach Theobald ein „Ineinander von Vita Jesu und eigener kirchlicher Erfahrung“ charakteristisch. Auf diese „Verschmelzung der Horizonte“ ist seine „dramatische Erzählung“ angelegt. Dank dem Beistand des „Parakleten“ (14,26) sieht der Evangelist in der Lebensgeschichte Jesu alles schon vorgegeben, was später auf diejenigen, die an ihn glauben, zukommen sollte und musste. Dass seine Gemeinden diese Transparenz des Erzählten auf ihre Gegenwart nachvollziehen können, hat er ihnen wohl zugetraut. Es ist näherhin eine „traumatische Schwellenerfahrung“, welche die johanneischen Gemeinden im Umkreis des Evangelisten von den Trägerkreisen der „Zeichenquelle“ trennt: Während diese sich noch als Teil des Synagogenverbandes begriffen, blicken die johanneischen Christen bereits auf ihren definitiven Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft zurück (vgl. 9,22; 12,42; 16,1-4). Dieses erlittene Trauma hatte seinen Grund in dem Blasphemie-Vorwurf, den offizielle Vertreter der Synagogen („die Pharisäer“) gegen sie erhoben, weil sie sich zu Jesus als dem präexistenten Gottes- und Menschensohn bekannten (vgl. 5,18; 9,38; 10,36; 19,7). Im Kern besagte dieser Vorwurf, sie würden mit ihrem Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu das biblische Grunddogma von der Einheit Gottes außer Kraft setzen und sich so vom monotheistischen Glauben der Synagoge verabschieden. Die ganze „dramatische Erzählung“ des Vierten Evangelisten lässt sich als Ringen mit diesem Vorwurf interpretieren. In dieser Auseinandersetzung besteht das Ziel des Evangelisten nicht einfach darin, diesen Blasphemie-Vorwurf zurückzuweisen oder den Ausschluss aus der Synagoge nostalgisch zu bedauern. Seiner Überzeugung nach musste der Glaube an den Gottes- und Menschensohn Jesus dessen Anhänger notwendigerweise aus der Synagoge herausführen: Was dem von Jesus geheilten Blindgeborenen (9,34) und zuletzt Jesus selbst widerfahren war, die Verstoßung als „Gotteslästerer“ aus der Tempel-Gemeinschaft der Juden, das konnte auch seinen Anhängern nicht erspart bleiben. Das heißt: Das Anliegen des Evangelisten ging dahin, die Leser seines Buches von der Notwendigkeit einer eigenen kirchlichen Identität abseits der Synagoge zu überzeugen. Sein Buch war daher nicht mehr an die Synagoge, sondern an die messianischen Jesus-Gläubigen in ihr oder an ihren Rändern gerichtet: Diese wollte der Autor des Evangeliums unter dem Vorzeichen seiner hohen Christologie für eine kirchliche Eigenständigkeit jenseits der Synagoge gewinnen. Diese bewusste Absicht des Evangelisten spiegelt sich auch in dem auffallenden Befund, dass seine „dramatische Erzählung“ nicht nur um Jesus gegenüber feindlich gesinnte, sondern auch um „an ihn glaubende“ Juden weiß (2,23; 7,31; 8,30; 10,42; 11,45; 12,11.42). Aber jedes Mal, wenn der Text eine solche Notiz bietet, wird sie mit einem Ausdruck der Reserviertheit versehen (programmatisch in 2,23-25). Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die „Vielen“, die aufgrund der „Zeichen“, die Jesus tut, „an seinen Namen glauben“, sozusagen „das erzählerische Pendant“ zu den Kreisen darstellen, aus denen die „Zeichenquelle“ stammt. Dieses „Judenchristentum“, das noch nicht von Israel bzw. vom Synagogenverband getrennt war und nach wie vor seine geistige Heimat in Jerusalem erblickte, wollte der Evangelist von seiner eigenen, radikaleren Position überzeugen!
Die „steile“ Christologie des Evangelisten
Auch in der konkreten Zeitsituation der johanneischen Gemeinden hat die hohe Christologie des Vierten Evangelisten ihre spezifische Bedeutung. Nach frühchristlichem Verständnis ist der Glaube an die messianische Bedeutung Jesu von der Überzeugung, dass an diesem Glauben das „Heil“ des Menschen hängt, nicht zu trennen (vgl. 20,31; 6,68f.). Gleichwohl fällt auf, dass die johanneischen Gemeinden kaum mehr wie Jesus von Nazareth vom „Reich Gottes“ sprechen (nur noch 3,3.5), sondern betont vom „ewigen Leben“. Das deutet an, dass hier das eschatologische Grundsymbol der Gottesrede Jesu in ein neues Sprachspiel transformiert wird, in dem die Frage des Menschen nach seinem Heil angesichts seines Todes ins Zentrum rückt. Deswegen hat der Evangelist auch das siebte und letzte „Zeichen“ Jesu, die Auferweckung des Lazarus, zum Grundsymbol der Überwindung des Todes überhaupt ausgestaltet. Diese Fixierung der Frage nach dem Tod als dem je meinigen Sterben ist nach Theobald im größeren Zusammenhang eines Verblassens jüdischer und frühchristlicher Apokalyptik und deren Umbau, wohl unter hellenistischem Einfluss, in eine eher individuell ausgerichtete Jenseits-Eschatologie zu sehen. Wird aber die Grundfrage des Menschen so radikal im Blick auf seinen Tod gestellt, dann muss dies auch Auswirkungen auf das Christusverständnis haben: Wird ein Messias, der nach jüdischem Verständnis „nur“ Mensch ist, „Leben“ in diesem vollen Sinn erschließen und das Sterbliche jetzt schon verwandeln können? Entsprechend ist Jesus für den Vierten Evangelisten weit mehr als „nur“ Messias, „Mensch aus Menschen“ (Justin, Dial. 48,1.3.4; 49,1): Er hat seinen Ursprung und Ort bei Gott selbst; er ist der vom Himmel herabgekommene „Menschensohn“. Auf diese Weise lässt der Evangelist die messianisch-prophetische Christologie der „Zeichenquelle“weit hinter sich bzw. vertieft sie radikal. Er tut dies in der Überzeugung, dass nur so der Glaubende begründet davon ausgehen kann, dass ihm durch Jesus tatsächlich „ewiges Leben“ erschlossen wird.
Eine Wirkfolge des Osterglaubens
Doch diese hohe johanneische Präexistenz-Christologie, die mit Jesus den Himmel sich öffnen sieht (vgl. 1,51), ist nicht unmittelbar als Antwort auf diese veränderte Grundfrage des Menschen entworfen worden, sondern ist als Bekenntnis der johanneischen Gemeinden schon älter, wie die Umstände ihres Ausschlusses aus der Synagoge zeigen. Sie stellt eine Wirkfolge ihres Osterglaubens dar. In Joh 3,13 ist deren Logik offen gelegt: „Und keiner ist in den Himmel hinaufgestiegen, wenn nicht derjenige, der aus dem Himmel herabgestiegen ist – der Menschensohn“. Danach ist der „Aufstieg“ Jesu, womit seine österliche Erhöhung am Kreuz gemeint ist, nur unter der Voraussetzung denkbar und glaubwürdig, dass er „vorgängig“ aus dem Himmel stammt. Seine „Auferstehung“, jetzt als „Aufstieg“ oder „Erhöhung“ gedacht, ist folglich das Primäre des Glaubens, seine „Präexistenz“ die Folgerung daraus. In dieser Hinsicht kann der Evangelist die Erhöhung Jesu auch als dessen „Rückkehr“ sehen – „dorthin, wo er vorher war“ (6,62). Dieses Denkschema vom „Ausgang“ des Erlösers aus seiner himmlischen Heimat und seiner „Rückkehr“ dorthin, das beim Evangelisten aus seiner spezifischen Osterreflexion erwächst, gewann auch dadurch an Plausibilität, dass frühjüdische Texte es analog auf den Besuch der göttlichen „Weisheit“ auf Erden bezogen (vgl. äthHen 42,1f.). Ähnliches gilt wohl auch im Blick auf die Erwartung eines himmlischen Menschensohnes im Judentum. Die johanneischen Christen nahmen den ihnen mit ihrem Bekenntnis zu Jesus als „Menschensohn“ und „Gottessohn“ von Seiten der Synagoge gemachten Blasphemie-Vorwurf sehr ernst. Er löste bei ihnen einen „Schub vertiefter christologischer Reflexion“ aus, was im Ringen des Evangelisten um dieses Problem noch nachhallt. Nicht grundlos lässt er Jesus immer wieder zu seinem Verhältnis zum Vater Stellung nehmen, und auch die in seinen Reden allgegenwärtige Sendungsterminologie ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Indem Jesus von seinem „Vater“ spricht als dem, „der ihn gesandt hat“ (5,23.37 u.ö.), oder häufiger noch vom Vater als „dem ihn Gesandt-Habenden“ (4,34 u.ö.), bringt der Evangelist gegenüber dem Blasphemie-Vorwurf von jüdischer Seite ein Modell zum Zug, das im Heilswerk Jesu selbst die Einzigkeit Gottes festschreibt. Das Gefälle von Vater zu Sohn ist unumkehrbar, wie vor allem 5,19 zeigt: „Der Sohn kann ohne den Vater nichts tun.“ Der Evangelist macht auch nirgends den Versuch, das paradoxe Beieinander der irdisch-menschlichen Existenz Jesu und seines göttlichen Geheimnisses in einer christologischen Theorie aufzuheben. Ihm liegt alles an der Feststellung, dass Jesus der Menschen- und Gottessohn in Person ist, nicht aber an einer Erklärung, „wie“ man sich diesen einzigartigen Einbruch des Göttlichen in Jesus vorstellen könne. Theobald spricht deshalb von einer „Christologie der Aspekte“ beim Evangelisten: Bei Wahrung der Personidentität unterscheidet dieser „dualistisch“ zwei Aspekte an Jesus: seine irdische Existenzweise und das in ihr verborgene Geheimnis seines göttlichen Wesens; ihr entsprechen zwei Sichtweisen: die des Unglaubens, der gebannt nur auf die irdische Erscheinung Jesu starrt, und die des Glaubens, der an Jesus seine himmlische Dimension wahrnimmt und auch die „Zeichen“, die er wirkt, auf seine göttliche Herrlichkeit hin zu lesen vermag.
Sekundäre Redaktion und Lieblingsjünger
Bezüglich der sekundären Redaktion, die das Buch des Evangelisten später erfahren hat, plädiert Theobald für eine in ihrem Ausmaß „gemäßigte Redaktion“. Da das Evangelium, wie es auf den Evangelisten zurückzuführen ist, ein „Gemeindebuch“ darstellt, liege es nahe, dass es zu interpretierenden „Nachträgen“ kam, wie auch die kontroversen Auslegungen seiner „steilen“ Christologie im 1. Johannesbrief zeigen können. Bei dieser Redaktion handelt es sich nicht um eine einheitliche Schicht, wie die schubweise entstandenen „Abschiedsreden“ sichtbar machen (15,1-16,4c; 16,4d¬33; 17). Während den Evangelisten vor allem die Frage der Ablösung der Kirche vom Judentum bewegt, denke die Redaktion eher „binnenkirchlich“, wie die von ihr gestaltete Erzählfigur des „Geliebten Jüngers“ andeutet, die fast ausnahmslos neben Simon Petrus auftritt. Die häufig geäußerte Meinung, die Redaktion trage die futurische Dimension der Eschatologie nach im Gegensatz zum Evangelisten, der eine präsentische vertrete, hält Theobald für „falsch“, ebenso das Vorurteil, erst die Redaktion füge mit 3,5 („aus Wasser“ geboren) und in 6,51e-58 Hinweise auf die Sakramente Taufe und Eucharistie ein, während die Theologie des Evangelisten „sakramentsfrei“, wenn nicht „sakramentsfeindlich“ sei. Die sekundäre Redaktion unterstellt das ganze Buch der Autorität des „Jüngers, den Jesus liebte“. Bei ihm handelt es sich einerseits um eine mit exemplarischen und idealen Zügen ausgestattete Erzählfigur, die aber andererseits eine einzigartige Rolle als authentischer Bürge und Augenzeuge der Vita Jesu spielt. Hinter ihr verbirgt sich möglicherweise ein Jesus-Jünger aus Jerusalem (vgl. 18,15ff.), der sich namentlich nicht mehr identifizieren lässt, der aber vielleicht der Missionar war, mit dem der johanneische Kreis seinen Ursprung verband. Vorausgesetzt, dass der Evangelist als Hauptautor des Buches mit diesem Jünger nicht identisch ist bzw. nicht sein kann, handelt es sich hier, wie 21,24 vermuten lässt, um eine besondere Art von Pseudepigraphie, eine fiktive Zuschreibung des Buches an den Gemeindegründer, der um seiner Idealität willen anonym bleiben muss. Zugunsten seiner Unterscheidung vom Evangelisten spricht das Gefälle, das wohl zwischen der Weltsicht eine Jerusalemer Juden und der eines eher in dualistischen Bahnen denkenden hellenistischen Juden anzunehmen ist. (S. 91f.)
Zum Aufbau und Gebrauch des Kommentars
Der Kommentar ist so aufgebaut, dass dieser in einem Abschnitt „A“ zu jedem Textabschnitt Informationen zu literarischen Fragen (Aufbau, Gattung, Genese des Textes) sowie zu historischen Hintergründen bietet. Unter „B“ erfolgt dann die genaue Vers-für-Vers-Auslegung. Ein Abschnitt „C“ bringt schließlich in aller Kürze Fragen und Hinweise zur theologischen und spirituellen Relevanz dieses Textes für heute. Diese knappen Anmerkungen am Ende jeder exegetischen Einheit haben nach Theobald nicht die Aufgabe, den Ertrag der Auslegung zusammenzufassen oder gar die Fülle und Tiefe des Textes für die heutige Zeit ausschöpfen zu wollen: Sie möchten vielmehr die Leserinnen und Leser „zu einem eigenständigen Gespräch mit dem Evangelium ermutigen“. Deshalb bittet der Kommentator diese ausdrücklich, sich für das Studium von „B“ Zeit zu lassen: „Hier lernen sie das Evangelium Zeile für Zeile kennen und werden so für ihr Gespräch mit ihm gerüstet.“ Denn uns heute sei eine vorbehaltlose Identifikation mit diesem faszinierenden Evangelium aus verschiedenen Gründen verwehrt. Seine für unsere Ohren seit Auschwitz unerträgliche „Juden“-Polemik sei nur das deutlichste Symptom einer Konzeption, die sich – „ohne ihr Unrecht zu tun“ – als „christologischer Monismus“ charakterisieren lasse: „Jegliche Gotteserfahrung wird hier am Christusglauben gemessen; entspricht sie ihm nicht, verfällt sie dem Verdikt der Einbildung und Täuschung. Das christozentrische Schriftverständnis des Evangelisten, seine dualistische Welt-Deutung, seine bewusste Absage an eine eigenständige Israel-Theologie, auch seine Ekklesiologie usw. stehen in Funktion dieses seines ´christologischen Monismus´.“ Die Lösung dieser Erschwernis kann aber für Theobald nicht darin liegen, den Aussagewillen des Textes umschreiben zu wollen, sondern „nur ein möglichst genaues Hinhören auf den Text sowie ein sorgfältiges Nachzeichnen seiner formalen und inhaltlichen Strukturen unter Berücksichtigung seiner (im hermeneutischen Zirkel erkundeten) Entstehungsbedingungen“ können seine Leser zu einem theologischen Gespräch mit dem vorgegebenen Text befähigen. (S.98f.) Der Kommentator zeigt im Blick auf „das Finale der ersten Buchhälfte“ (12,37-50), wohin dieses Gespräch im Grenzfall führen kann: Hier steht die „Verstockungsaussage“ Jes 6,10 über Israel - anders als in den übrigen Evangelien und bei Paulus – „in erschreckender Isolation“ da, „weil sie das letzte Wort der johanneischen Gemeinde über die Synagoge bzw. über den an der Synagoge handelnden Gott ist, über welches hinaus kein weiteres Wort mehr erfolgt“. Und „nirgends“ versucht der Evangelist, dieses „Gottesrätsel“ mit dem Hauptthema seines Buches, „der Verkündigung von Tod und Erhöhung Jesu als dem letztgültigen Ausdruck von Gottes schöpferischer Liebe zur Welt“, in eine fruchtbare Verbindung zu bringen, aus der Hoffnung auch für Israel erwachsen könnte. „Genau hier ist deshalb das Israel-Bild des Vierten Evangelisten auf das paulinische Zeugnis als sein bibeltheologisches Korrektiv angewiesen. Erst der Zusammenklang dieser keineswegs bruchlos zusammenpassenden neutestamentlichen Zeugnisse vermag eine Israel-Theologie hervorzubringen, die sich ihrer Verantwortung angesichts der Wirkungsgeschichte der biblischen Texte stellt und Perspektiven für eine angemessene Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel um der Zukunft beider willen entwickelt“ (S. 832f.).
Ein Fazit
Dem Tübinger Neutestamentler ist ein Kommentar zum Vierten Evangelium geglückt, der durch die souveräne Kenntnis der exegetischen Diskussion, die Genauigkeit der Textanalyse, das hohe Urteilsvermögen und die theologische Interpretationskunst seines Verfassers überzeugt. Dazu kommt die Gabe einer verständlichen Darstellung
– trotz der notwendigen Differenziertheit in vielen Sachfragen. Was auf den ersten Blick wie ein Nachteil wirken könnte: dass die notwendigen Anmerkungen und Belege nicht gesondert in einem eigenen Textteil aufgeführt werden, lässt den Kommentar wie ein „normales Buch“ in die Hand nehmen – auch wenn der Leser mitunter genötigt ist, die runden und darin oft eingefügten eckigen Klammern (mit gut gewählten charakteristischen Zitaten) zu entwirren. Ich für meine Person kann bezeugen, dass ich den Kommentar von der ersten bis zur letzten Zeile fast wie einen spannenden Roman gelesen habe. Man kann dem grandiosen Kommentar nur wünschen, dass er viele interessierte Leserinnen und Leser finde und dass der zweite Band dem ersten bald folge.
Rolf Baumann (2010)
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 3/2010