Thomas Schmeller (Hg.)
Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert
Grenzüberschreitungen (Festschrift Joachim Gnilka)
Freiburg/Br.: Herder 2008
320 Seiten, € 49,50
ISBN 978-3-451-29933-9
Zum 80. Geburtstag des katholischen Neutestamentlers Joachim Gnilka gratuliert ihm sein Schüler- und Kollegenkreis mit vorliegender Festgabe. Das Grußwort von Friedrich Kardinal Wetter eröffnet diesen ebenso reichhaltigen wie umfangreichen Band, der sich in fünf thematische Teile gliedert.
Der erste Hauptteil »Methodik und Hermeneutik« umfasst drei Beiträge, die dezidiert dem Wunsch Joachim Gnilkas entsprechen, »Grenzüberschreitungen zu wagen« (S. 51). Diese Ausrichtung wird den gesamten Band prägen. Hubert Frankemölle hinterfragt in seinem eröffnenden Essay die sog. »kanonische Exegese«, also die »kontextuellen Zugänge« der Rezeption des Neuen Testaments im 21. Jahrhundert (S. 12). Mit analytischer Schärfe bringt er die Prämissen und Arbeitsweisen dieses vor allem von Alttestestamentlerinnen und Alttestestamentlern gewählten Zugangs auf den Punkt, um jeweils mit pointierten Fragen den Finger in die Wunde zu legen. Sein Plädoyer geht dahin, das Schlagwort der »kanonischen Exegese« nicht als Frontstellung gegen historisch-kritische Methoden auszuspielen, denn »auch die Schrift als ›kanonische Einheit‹ in der Vielfalt der unterschiedlichen Sammlungen kann wie jeder biblische Text Gegenstand historisch-kritischer Exegese sein, da die Rezeptionsgeschichte und die verschiedenen hermeneutischen Vorentscheidungen genuines Geschäft der Exegeten sind« (S. 25). Das Grunddilemma der bisher vorgelegten »kanonischen« Auslegungen besteht aber seiner Ansicht nach darin, »dass nicht angegeben wird, auf der Textgrundlage welchen Kanons man arbeitet und welche hermeneutischen Folgen dies für die theologischen Aussagen hat« (S. 25).
Das heißt also, dass zwar bestimmte Sammlungen, von den Paulusbriefen bis hin zum für eine bestimmte Glaubensgemeinschaft normativen Kanon, in ihrer Endgestalt Gegenstand der Untersuchung sein können. Aber der Kanon selbst »kann nicht der hermeneutische Schlüssel aller Textauslegung sein und Maßstab der Methoden und biblischen Leseweisen. Als Glaubenszeugnis kann und muss auch jede frühere Textstufe interpretiert werden. Als konkrete Glaubenszeugnisse bestimmter Menschen haben diese ihr gleiches Recht wie die kanonischen Endtexte als Zeugnisse von Glaubensgemeinschaften, sofern das einzelne Mitglied sich in der Sammlung wiederfindet« (S. 31). Damit spricht sich Frankemölle auf wohltuende Weise für eine Multiperspektivität in der Hermeneutik und einen Pluralismus in der methodischen Erschließung der biblischen Texte aus – was man guten Gewissens als gelungene »Grenzüberschreitung« bezeichnen kann. Detlev Dormeyer führt anhand des Gleichnisses von den zwei Brüdern und dem gütigen Vater (Lk 15,11–32) eine narrative Erzähltextanalyse durch und bietet in Anlehnung an das Jesusbuch von Papst Benedikt XVI. »grenzüberschreitende Auslegungsmöglichkeiten« an. Elisabeth Schüssler Fiorenza schließlich widmet sich den »Grenzüberschreitungen einer kritisch-feministischen Befreiungshermeneutik«. Entsprechend einer Hermeneutik des Verdachts ist feministische Bibelinterpretation eine »Grenzüberschreiterin«: »Sie ist interdisziplinär und interreligiös. Sie sucht die Grenzziehungen zwischen Exegese und Theologie, Bibelwissenschaft und Ethik, wissenschaftlichen und ›normalen‹ LeserInnen zu überschreiten, um so die heilschaffende Macht des Wortes wiederzugewinnen« (S. 62).
Der zweite Hauptteil versammelt Beiträge unter der Rubrik »Antiker Kontext«. Während Dieter Zeller den Sühnetod Jesu aus religionsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet, »konfrontiert« Peter Egger den Agricola des Tacitus mit dem Lukasevangelium und zeigt interessante Parallelen auf: Beide Autoren beginnen ihre Schrift mit einem Proömium, beide lassen die Protagonisten erst nach einer Vorgeschichte auftreten. Neben zahlreichen weiteren Analogien propagieren Lukas und Tacitus das Weiterleben einer »Lehre«, verfolgen ein paränetisches Anliegen und zeichnen die Protagonisten als besondere Vorbilder im Tod: »Agricolas virtus besteht darin, vorbildlich im privaten und öffentlichen Leben zu handeln, zum eigenen, aber immer auch zum Nutzen des Gemeinwohls, selbst unter widrigen äußeren Umständen. Während sein Ruhm ausschließlich auf eigener Leistung beruht, fügt sich Jesus (wie auch Maria) widerspruchslos dem Willen Gottes. Seinen Heilsplan im eigenen Lebensvollzug zu bezeugen, macht christliche Größe aus. Dem hat Lukas ebenso das Weiterleben gesichert, wie Tacitus echter römischer virtus ein Denkmal gesetzt hat« (S. 113). Drei weitere Beiträge schließlich widmen sich dem Apostel Paulus: Jan Lambrecht, »Eschatological Newness in Romans 7,1–6«, Franz-Josef Ortkemper, »Paulus – ein Frauenfeind?« und Karl Löning, »Paulus als soteriologische Schlüsselfigur in den Pastoralbriefen«.
Der dritte Hauptteil »Wirkungsgeschichte« umfasst drei Abhandlungen: Thomas Schmeller, »2 Kor 3,1–4,6 bei Markion und Tertullian«, Otto Böcher, »Von der apokalyptischen Vision zur christlichen Sakralarchitektur« und Otto Merk, »Neutestamentliche Wissenschaft in Briefen von und an Albert Schweitzer«. Bereits die Überschriften zeigen, dass diese drei Beiträge einen weiten Bogen wirkungsgeschichtlicher Möglichkeiten schlagen. Alle Abhandlungen dieses dritten Hauptteils sind in ihrer je eigenen Ausprägung äußerst instruktiv und lesenswert.
Der vierte Hauptteil trägt den Titel »Religion und Philosophie« und versammelt Aufsätze von Shuyler Brown (»The Bible and the Qur’an as Scripture«), Hans-Josef Klauck (»Abraham und Kierkegaard. Variationen zum Thema der Aqedah«), Franz Mußner (»Heidegger und die Anfänge der Bibel«) und Hans Hübner, der sich mit dem buddhistischen Philosophen und Theologen Keiji Nishitani auseinandersetzt. Auch diese Beiträge sind hochkarätige Analysen zu philosophisch geprägten Spezialthemen, die man in dieser Bündelung sonst wohl nirgends zu greifen bekommt.
Der fünfte und letzte Hauptteil schließlich wagt den Sprung in die kirchliche und gesellschaftliche Praxis. Zunächst einmal widmet sich Markus Schiefer Ferrari der sog. »Kindertheologie«, die er in ihren Grundzügen beschreibt, um daraus die spezifischen Chancen und Grenzen eines kinderexegetischen Ansatzes zu entwickeln. Seine These: Es kommt nicht in erster Linie darauf an, die Ergebnisse der Kinderexegesen in den Rahmen wissenschaftlicher Exegese einzuordnen und am Ende sogar gegen diese auszuspielen, sondern zentraler ist es, Kinder in ihrer eigenen Weise, die Bibel zu verstehen, ernst zu nehmen und zu unterstützen. Aus diesem Grunde favorisiert er die Rede von einer »kindertheologischen Bibeldidaktik«, die diesem Anliegen am nächsten kommt. Helmut Schreiner weitet das Thema auf die spezifische Situation des Religions- und Bibelunterrichts mit einem besonderen Fokus auf das Neue Testament aus, während Franz Jung die Samariterin am Jakobsbrunnen als »Paradigma für eine Katechese in veränderter Zeit« ansieht. Warum? Weil Katechese, mit Alfred Delp gesprochen, das Ziel hat, »den Menschen zu diesem ›Brunnenpunkt‹ zu führen, an dem er entdecken darf, dass Gott letztlich der Quell ist, aus dem sein Leben entspringt. Das Evangelium von der Begegnung Jesu mit der Samariterin mag dies eindrücklich belegen. Es formuliert einen hohen Standard von Katechese, der jedoch der veränderten Zeit Rechnung trägt. Nur wer selbst je zu diesem Brunnenpunkt in der Begegnung mit Jesus vorgedrungen ist, kann für andere zum glaubwürdigen Zeugen werden« (S. 343f.). Beiträge von Franz Zeilinger, Luis Angel Montes Peral, Tomas Siuda und Lothar Wehr vervollständigen schließlich diesen letzten Hauptteil.
Thomas Schmeller legt als Herausgeber mit dieser Festschrift eine interessante und vielschichtige Publikation vor. In jeder Hinsicht wagt er damit eine »Grenzüberschreitung«: Eine klassische exegetische Festschrift sieht anders aus. Stattdessen wird der Sprung über den binnenexegetischen Diskurs gewagt, indem spezifische neutestamentliche Themen und Texte gezielt mit außerneutestamentlichen Themen und Texten in Bezug gesetzt werden. So ergibt sich ein spannungsreicher Pool an zum Teil innovativen Einzeleinsichten, von denen die Leserin und der Leser je nach Interessenlage profitieren werden. Gerade dieser weite thematische und methodische Bogen zeichnet das Buch in besonderer Weise aus.
Der im Vorwort zitierten kritischen Situationsanalyse des mit der vorliegenden Festschrift Geehrten ist hier jedenfalls deutlich entgegen gesteuert worden: »Kaum zu übersehende Frustrationserscheinungen in der (neutestamentlichen) Exegese dürften auch dem Umstand zu verdanken sein, dass zu oft dieselben Probleme und Themen traktiert werden.« Das kann man von den Beiträgen dieses Bandes nun wirklich nicht behaupten.
Uta Poplutz (2010)
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 3/2010