Die heilige Schrift der Juden in der Deutung der Jesus-Ereignisse

Buchvorstellung - 01.07.2010

Kerstin Schiffner
Lukas liest Exodus
Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre (BWANT, 172)

Stuttgart: Kohlhammer 2008
480 Seiten, € 45,00
ISBN 978-3-17-019732-9

Ausgangsbeobachtung der Dissertation von Kerstin Schiffner, die sie im Jahr 2006 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum unter der Leitung von Horst Balz und Jürgen Ebach vorgelegt hat, ist der interfigurale Bezug zwischen Maria, der Mutter Jesu, und Mirjam, der Schwester Aarons und Moses, wie man sie in dem gemeinsamen Namen, im prophetischen Sprechen und Handeln, sowie in der lebensbewahrenden bzw. -gebenden Beziehung zum „Retter“ Israels feststellen kann (S. 15). Weitere Stichwortverbindungen, Zitate, Anspielungen und Strukturparallelen, die das lukanische Doppelwerk durchziehen, erlauben das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte als Gesamtentwurf einer „Exoduslektüre unter messianischen Vorzeichen“ zu verstehen.

Genauer gesagt: der Gesamtaufbau von Lk-Apg orientiert sich an der Handlungsfolge von Exodus 1 bis Josua 24. So lautet die These der Autorin, die seit November 2008 Pfarrerin der Evangelischen Kirche von Westfalen ist. Ein erster Hauptteil dieser Arbeit – vorwiegend einleitend – macht sich Gedanken über die Forschungslage zu den Exodusüberlieferungen im NT, im lukanischen Werk insgesamt oder in einzelnen Passagen, wie auch über hermeneutisch-methodische Fragen zur Intertextualität und zur lukanischen Lektüre der Exoduserzählung. Ein zweiter Hauptteil versucht einen Überblick zu erarbeiten über die Exoduserzählung (Ex 1-Jos 24), mit Hauptakzent auf Mirjam, „die zentrale Frauengestalt“ dieser Erzählung, sowie über die Exoduslektüren innerhalb der Schrift (Juditbuch) und außerhalb der Schrift (im Jubiläenbuch, in Pseudo Philos Liber Antiquitatum Biblicarum, sowie in den Antiquitates judaicae des Flavius Josephus).

Im dritten Hauptteil versucht K.S. zu zeigen, „wie Lukas Exodus messianisch liest“ – durch Einzelverbindungen, durch strukturelle Parallelen (z.B. Rettung am Schilfmeer und Dämonenvernichtung, Speisungen in der Wüste, Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft sowie die Befreiung des Petrus und sein „Exodus“ in Apg 12 ...), durch interfigurale Verbindungen (Mirjam, die Prophetin des Exodus, und Maria, die Mutter Jesu [fast 50 Seiten zu Lk 1-2]; der Befreiungsprogramm Moses und das Befreiungsprogramm Jesu; die Figur des Pharao in der Moseserzählung und die des Satan in der Jesuserzählung ...). Der vierte Hauptteil beschäftigt sich mit der Stephanusrede als Sonderfall lukanischer Exoduslektüre (S. 339-393). Im fünften Hauptteil findet man eine ausführliche Gegenüberstellung der Parallelpassagen zwischen Exodus und Lukasevangelium/ Apostelgeschichte (hier einige Hinweise):

 

Ex 1-2; 15: Mirjam + Mirjamlied Lk 1-2: Maria und Magnificat, usw.
Ex 3: Die Berufung des Mose Lk 3: Die Taufe Jesu
Ex 5: Die Konfrontation des Mose mit dem Pharao Lk 3: Die Konfrontation Jesu mit Satan
Ex 6: Die Wiederholung der Berufung des Mose Lk 4: Die Bestätigung des Programms Jesu
Ex 7ff: Zeichen und Erweise der Macht JHWHs durch Mose Lk 5ff: Heilungen und Dämonenaustreibungen durch Jesus
Ex 12: Das Passamahl Lk 22,1-38: Das Passamahl
Ex 19: Theophanie am Sinai Apg 2: Das Kommen der Geistkraft
Jos 23-24: Die langen Reden Josuas Apg 24,10-21; 26,2-23: Die langen Reden des Paulus

 

Die Beweisführung von K.S. überzeugt mich nicht und ist m.E. durch eine Reihe methodologischer Kurzsichtigkeiten belastet. Dazu einige kritische Fragen: 1. Wieso, wenn von Intertextualität in Bezug auf das lukanische Doppelwerk gesprochen wird, setzt man sich nicht in allererster Stelle und ausführlich mit der lukanischen Relektüre des Markusevangeliums auseinander?

2. Wenn man so eine massive und allumfassende These wie „Lukas liest Exodus“ aufstellt und argumentiert, sollte man sich dann auch nicht mit Gegenthesen auseinandersetzen? Thomas Brodie, zum Beispiel, sieht im Lukasevangelium eine Relektüre der Elija- und Elischaerzählungen; Andere machen aufmerksam auf eine Abraham-Referenz, die durch das ganze Lukasevangelium bis zu weit in die Apostelgeschichte hineinführt. Lukas selbst spricht von „Gesetz und Propheten“, sogar von „Gesetz, Propheten und Psalmen“, also die Heiligen Schriften der Juden insgesamt. Methodologisch müsste man mindestens diese Arbeiten erwähnen und sich dazu äußern. Inhaltlich jedoch ist es klar, dass im lukanischen Werk ein vielseitiger und vielschichtiger Gebrauch der alttestamentlichen Überlieferungen vorliegt.

3. Inwieweit kann man eine so exklusive Mirjamtypologie für Lk 1-2 behaupten? Es ist schon längst klar, dass der Leser in der sogenannten lukanischen Kindheitserzählung ein Gewebe alttestamentlicher Traditionen und Referenz-Figuren entdeckt: Stammväter (Abraham) und Stammmütter (Sara und Rachel) (aus dem Buch Genesis), Hanna (1 Sam 2; die Diskussion dieser wesentlichen Vorlage des Magnificat wird praktisch nur erwähnungsweise in Anmerkungen geführt [S. 235, Anm. 116; S. 287, Anm. 481, sowie S. 239]), davidische Referenzen, sowie prophetische Töne und massive Anspielungen auf die Gestalt Gabriels und das Gebet Daniels beim Opfer ... Die Präsenz von Erinnerungen an Abraham und Sara sowie von priesterlichen Züge in der Darstellung von Zacharias und Elisabet, von prophetischen Merkmalen in Simeon und Hanna wie auch von davidischen Bestimmungen in Josef macht deutlich, dass die Erwartung Israels auf den kommenden Retter von Lukas in seiner heilsgeschichtlichen und geschlechtlichen Breite gemalt wird. Die paarweise Darstellung (Frau und Mann) der handelnden Menschen im lukanischen Werk wäre ein ergiebiger Forschungsbereich – gerade auch für feministische Exegese! In diesem Kontext könnten eventuelle Anspielungen an Mirjam ein kleiner Teil eines Ganzen sein ... wenn überhaupt.

4. Wieso wird in der Zusammenstellung der innerbiblischen Lektüren der Exoduserzählung ein so großen Akzent auf das Juditbuch gesetzt, dagegen kein eigener Abschnitt dem Deutero- und dem Trito-Jesaja gewidmet? Bekannterweise sind dort Exodusüberlieferungen weitgehend bearbeitet; davon werden zwei wichtigen Stellen in Lk 3,4-6 (Jes 40,3-5 LXX) und in Lk 4,18-19 (Jes 61,1f; 58,6) explizit und programmatisch zitiert. 5. Inwieweit sind die in der Stephanusrede integrierten erzelterlichen (Abraham und Joseph), mosaïschen und königlichen Referenzen, die in einer sehr kritischen Auseinandersetzung mit der Ablehnung des göttlichen Botschafters, sowie mit der Frage des Ortes der Gegenwart Gottes außerhalb vom anerkannten Tempel und Land, zusammengewoben sind, nicht in ihre Gesamtheit von K.S.s Kommentar unterbewertet zur Gunst einer Exodustypologie? Noch dazu muss man sagen, dass die Mosetypologie nicht ohne Weiteres mit der Exodustypologie gleich zu setzen ist. ... Lukas liest nicht nur Exodus sondern die ganze heilige Schrift der Juden in der Deutung der Ereignisse um Jesus von Nazaret. Es scheint mir, dass seine Lektüre vielschichtiger und komplexer ist, als das, was Frau Dr. Schiffner in ihrer Monographie aufzeigt.

Thomas Osborne
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 3/2010