Norbert Scheuer
Überm Rauschen
München: Verlag C.H. Beck 2009
167 Seiten
ISBN 978-3-406-59072-6
Norbert Scheuer gehört seit längerer Zeit zu den Geheimtipps der deutschsprachigen Literatur. Immer mal wieder – sei es in Klagenfurt oder unlängst auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis – gilt er als preiswürdig und erfolgsverdächtig, bleibt aber dann doch wieder eher ein unberücksichtigter Autor der zweiten oder dritten Reihe. Dass dies zu Unrecht geschieht, zeigt wieder einmal sein letzter Roman „Überm Rauschen“, der auch diesmal in der Eifel spielt, wo Scheuer 1951 geboren wurde.
Es geht um Leo, der nach einem längeren „Auslandsaufenthalt“ (aus Eifler Perspektive) in Düsseldorf und Hamburg in sein Heimatdorf zurückkehrt. Das ist ein alter, nachgerade romantischer Topos, der bei Scheuer aber fast auf das Niveau eines Stephen King gehoben wird. Denn Hermann, sein Bruder, hat sich seit einigen Tagen in seinem Zimmer verbarrikadiert, scheint depressiv geworden zu sein, nachdem er nach einigen Jahren Seefahrt wieder nach Hause zurückgekehrt ist, um dort die Kneipe seiner Eltern weiterzuführen, die über einem „Der Rauschen“ genannten Wehr erbaut worden ist. Nach und nach werden über den wunderbar präzisen und doch unprätentiösen Stil Scheuers Bilder aus der Kindheit von Leo und Hermann sichtbar: eine völlig in die Nymphomanie abgeglittene, weil unglückliche und überforderte Mutter, die den Kindern eher beigebracht hat, keinen Menschen wirklich zu lieben, ein daueralkoholisierter, brutaler Vater, der in dubioser Weise mit einer ermordeten holländischen Frau zusammenhängt, deren Leiche im Verlaufe der Handlung gefunden wird. In diesem Jammertal karger Kindheit in der Eifel zwei Brüder und ihre beiden Schwestern, die sich selber suchen und erproben – auch in der Liebe – und dabei scheitern und verzagen, bis sie wissen, dass ihnen nur der Weggang bleibt von einer Gegend, von der sie aber doch nicht loskommen.
Trotz all diesen Daseinskummers, dieser traurigen, an einen düsteren Eifel-Tag erinnernden Kindheit gibt es ein Hoffnungsmoment: das Leben der Fische, die in Norbert Scheuers Roman liebevoll illustriert und vorgestellt werden wie Mitbewohner jener unordentlichen und von frühem Leid durchzogenen Kindheitslandschaft, und der Fluss, an dem das Gasthaus steht, in dem Hermann und Leo aufwachsen. „Wir öffneten abends das Fenster“, heißt es im Roman, „und der Rauschen flutete in unser Zimmer, der Fluss schmeckte nach Pflaumen, reifen Äpfeln, roch nach schleimigen Kuhnasen, nach einem Sack ertränkter junger Katzen, nach Nebel und Abenteuern, für die es keine Sprache gab, Dinge, die uns stumm machten wie Fische und glücklich, am Fluss zu leben.“
Der Ich-Erzähler Leo gibt eine Antwort auf die Frage, was Glück ist: unspektakulärer Alltag, in dem auch Not, Elend und Tod ihren Platz haben. Vielleicht macht ein solch eher stoischer Blick auf die Welt dieses Buch zu einem, das auch theologisch interessierten Leserinnen und Lesern zu empfehlen ist. Glücklich macht aber allein schon der Erzählton Scheuers, diese Welt, in die man eintauchen kann wie in einen sonnigen Herbstabend, in dem auch ein wenig Vergänglichkeit und Schneeluft schon zu schmecken ist. Nicht zuletzt deshalb auch die passende November-Lektüre.
Thomas Meurer (+)
Buchtipp des Monats November 2009 bei http://www.theologie-und-literatur.de