Alltagswirklichkeit versus biblische Weisung

Buchvorstellung - 07.10.2010

Andrej Longo
Zehn. Erzählungen

Frankfurt: Eichborn 2010
160 Seiten
ISBN 978-3-8218-6112-8

Als zwischen 1988 und 1989 der polnische Regisseur Krzysztof Kieślowski seine Reihe „Dekalog“ realisierte, in denen er zu den zehn Geboten zehn meisterhafte Filme, die allesamt in einem Neubaugebiet am Rande einer polnischen Stadt spielen, zu einem Zyklus verband, entstand nicht nur ein aktualisierter, sondern auch ein mehrdimensionaler Blick auf das Zehnwort vom Sinai, der begierig in schulischen und erwachsenenbildnerischen Zusammenhängen aufgenommen wurde.
 

Etwas Ähnliches ist dem italienischen Autor Andrej Longo mit seinem im Eichborn-Verlag erschienenen Buch „Zehn“ (aus dem Italienischen übersetzt von Constanze Neumann) gelungen. Longo, der lange als Pizzabäcker in Neapel arbeitete und heute als Drehbuchautor in Rom lebt, siedelt zehn Erzählungen in den schmuddeligen Behausungen und dunklen Gassen Neapels an: Momentaufnahmen eines brutalen und kriminalisierten Alltags, in dem menschliche Schicksale aufleuchten, die gleichermaßen berühren und bestürzen.

Da wird ein alter Mann eher aus Langeweile und Beiläufigkeit von einem Teenager niedergestochen, der ihm einen nicht nennenswerten Geldbetrag raubt. Einige Zeit später begegnet der inzwischen wieder genesene Senior dem Dieb und fragt ihn: „Brauchst Du noch mehr Geld?“, während er ihn ernst und durchdringend anschaut. Longo überschreibt alle diese Momentaufnahmen mit einem der biblischen Gebote: diese Erzählung mit „Du sollst nicht stehlen“. So entsteht ein einerseits ironischer, andererseits nachdenklich stimmender Kontrast zwischen Alltagswirklichkeit auf der einen und biblischer Weisung auf der anderen Seite.

Die Menschen, um die es in Longos Erzählungen geht, haben Gott und ihre Hoffnung auf ihn längst verloren. Sie sind sich selber zu einer Frage geworden, auf die niemand zu antworten scheint. Mit einer ebenso lakonischen wie poetischen Sprache führt Longo überaus gelungene Bilder eines harten neapolitanischen Alltags vor Augen, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf und zugleich doch auch ein Helfer sein kann. Unter der Überschrift „Du sollst Vater und Mutter ehren“ erzählt Longo von einem Dreizehnjährigen, der seine schwerkranke und von Schmerzen gepeinigte Mutter mit einem Kissen erstickt, weil ihr ansonsten niemand wirklich hilft – auch nicht Don Antonio, der zwar von einem gnädigen Gott faselt, es aber in der Nähe der sich vor Schmerzen krümmenden Patientin keine Minute aushält. . „Jede Geschichte ein Schlag in den Magen“ heißt es auf dem Rückendeckel des Buches. Jede Geschichte aber auch eine Vorlage zum Innehalten, Nachdenken und Diskutieren.

Thomas Meurer (+)
Buchtipp des Monats Mai 2010 bei http://www.theologie-und-literatur.de