Stimme eines modernen Hiob

Buchvorstellung - 14.09.2010

Christoph Schlingensief
So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!
Tagebuch einer Krebserkrankung

Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2009
256 Seiten
ISBN 978-3-462-04111-8

Gegenwärtig begegnet das Thema Tod, Sterben und Vergänglichkeit in vielfältiger Weise in den literarischen Neuerscheinungen. Kathrin Schmidt beispielsweise verarbeitet in ihrem Roman „Du stirbst nicht“ ihren vor einigen Jahren erlittenen Schlaganfall und den damit verbundenen Sprachverlust sowie die mühsame Suche nach der verlorenen Sprache, die eine Autorin in existenzieller Weise trifft.
 

Judith Hermann kreist in den Erzählungen ihres neuen Buches „Alice“ um das Sterben und die Bedeutung, die der Tod für die hat, die vorerst noch am Leben bleiben. Unter diesen Neuerscheinungen sticht Christoph Schlingensiefs „Tagebuch einer Krebserkrankung“ heraus. Tatsächlich ist es zunächst das Tagebuch irgendeiner Krebserkrankung, die millionenfach erlebt und vielfach literarisch verarbeitet wird. Und zugleich ist es doch die Auseinandersetzung des zuhöchst kreativen und gescheiten Regisseurs und Performance-Künstlers Christoph Schlingensief, der sich selbst einmal als „Verwertungsmaschine“ bezeichnet hat. Als im Januar 2008 bei dem 47jährigen Schlingensief ein Lungentumor diagnostiziert, ein Lungenflügel entfernt und Chemotherapie und Bestrahlung angeschlossen werden, beginnt Schlingensief, seine Empfindungen, Gedanken, Gefühle und Ängste zu diktieren. Dicke Ordner entstehen, die wie eine Krankenakte ganz eigener Art sich mit dem „Gegner“ in Schlingensiefs Körper, mit dem „Fremden in ihm“ und dem Skandal der Freiheitsberaubung auseinander setzen, der ihm durch die Krankheit zugemutet wird. Aus dieser Sammlung ist das vor wenigen Wochen erschienene Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ entstanden, dass Schlingensief selber im Vorwort als „Kampfschrift“ bezeichnet.

Unweigerlich kommt der Autor immer wieder auf Gott zu sprechen, auf dessen „Schuld“ und zugleich auf die Hoffnung, die er immer noch auf diesen Gott setzt. Anrührend, wie Schlingensief von der Erfahrung einer Eucharistiefeier im Krankenhaus erzählt, bei der ihm bei dem Satz „Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“ die Tränen kommen. Andererseits wünscht sich Schlingensief von der Kirche, „dass sie aufhört“, wie er im Vorwort schreibt, „uns mit den Geheimnissen des Jenseits unter Druck zu setzen. Das Leben ist zu schön, um uns Menschen permanent mit kommendem Unglück zu drohen. Gottes Liebe und Hilfe – egal, wer oder was das auch sein möge – sind keine Erziehungsdrops. Die Liebe Gottes manifestiert sich vor allem in der Liebe zu uns selbst! In der Fähigkeit, sich selbst in seiner Eigenart lieben zu dürfen, und nicht nur in dem, was wir uns ständig an- und umhängen, um zu beweisen, dass wir wertvoll, klug, hübsch, erfolgreich sind.“ Christoph Schlingensief hat – vielleicht nicht ganz unabsichtlich – ein Buch vorgelegt, das sich als Stimme eines modernen Hiob in die Diskussion um Gottes Abwesenheit und um seine Rechtfertigung angesichts unseres Leidens und Sterbens einmischt.

Thomas Meurer (+)
Buchtipp des Monats Juni 2009 bei http://www.theologie-und-literatur.de