Sensibilisierung für Online-Communitys

Buchvorstellung - 21.09.2010

Harald Gapski/ Lars Gräßer (Hg.)
Medienkompetent in Communitys
Sensibilisierungs-, Beratungs- und Lernangebote
(Schriftenreihe Medienkompetenz des Landes Nordrhein-Westfalen 8)

München: Kopaed 2010
125 Seiten
ISBN 978-3-86736-208-5

Der achte Band der Schriftenreihe Medienkompetenz des Landes Nordrhein-Westfalen steht unter dem Titel „Medienkompetent in Communitys. Die beiden Herausgeber, Harald Gapski und Lars Gräßer, Kommunikationswissenschaftler am Europäischen Zentrum für Medienkompetenz in Marl, gehen im vorliegenden Band der Frage nach, inwieweit Soziale Netzwerke, bzw. Online-Communitys einen Beitrag zum Medienkompetenzerwerb ihrer Nutzer beitragen können, bzw. wie medienkompetent die Nutzer in der Kommunikation innerhalb der Netzwerke sind.

Nahezu alle aktuellen Studien zum Medienverhalten Jugendlicher bestätigen die zunehmende Attraktivität der Sozialen Netzwerke und geben den Aktivierungsgrad der 14 – 19jährigen in solchen Online-Communitys mit deutlich über 75 % an. Dabei wird bereits von einer intuitiv erworbenen und teils habitualisierten Nutzung gesprochen. In den Netzwerken findet in der spielerischen und ernsten Gleichzeitigkeit von Realität und Virtualität in der Darstellung des eigenen Profils Identitätsfindung und Beziehungsmanagement statt. Somit sind diese „eine jugendkulturell geprägte Sphäre der Identitätsbildung oder –arbeit, die möglicherweise auch als sozialer und virtueller Lernort genutzt werden kann.“ (S.10)

In sechs Beiträgen stellen unterschiedliche Autoren und Autorinnen Beispiele von Sensibilisierungs-, Beratungs- und Lernangeboten vor und loten die Chancen und Grenzen der Online-Aktivitäten in Bezug auf den Kompetenzerwerb in unterschiedlichen Bereichen aus. Die vorgestellten Beiträge gehen alle von der Überlegung aus, dass eine „Bildungsintervention von Innen“ eine größere Chance habe, die Schere zwischen Denken/Wissen und Handeln im Netz überwinden zu können als externe Interventionen. Die Beiträge berichten von Projekten zum Kompetenzerwerb in den Netzwerken, in den Communitys selbst, um die mittlerweile schon als „klassisch“ zu bezeichnenden Probleme wie Suchtverhalten, Bullying, Urheberrechte, Missbrauch persönlicher Daten, Egalisierung aller angebotenen Informationen etc. angehen zu können.

Prof. Dr. Dorothea M. Meister und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Bianca Meise untersuchen das Nutzungsverhalten von Jugendlichen in den sozialen Netzwerken wie studiVZ, schülerVZ, Facebook etc. in Bezug auf Identitätsfindungsprozesse zunächst mit einem sehr positiven Blick. Communitys bieten eine Möglichkeit der vielseitigen, nicht situationsgebundenen und korrigierbaren Selbstdarstellung durch die Erstellung von Profilen und deren Aktualisierung. Die Autorinnen interpretieren diese als „neue virtuelle soziale Rolle“, die so komplex sein kann, dass sie offline keine Entsprechung finde. Gerade die Verschriftlichung und Korrektur als Reflexionsprozess biete eine Basis für echte Identitätserfahrungen, da Forschungsergebnisse bestätigen, dass das virtuelle Profil hohe Authentizität birgt. Diese neue Selbstrepräsentation überdauert, ist fixiert, immer verfügbar, nie abgeschlossen, manipulier- und korrigierbar. „Die Nutzung der Netzwerke kann somit als Wunsch interpretiert werden, in einer multioptionalen unsicheren Gegenwart eine vermeintliche Beständigkeit und Verfügbarkeit von Sozialität heraufzubeschwören. Anknüpfend ist es ebenso möglich, dass diese Plattform als Erinnerungssysteme für biografische Identität …. fungieren.“ (S.27) Dies wird durch die Verbindungsoption zu anderen Mitgliedern unterstützt. Gruppenzugehörigkeiten, Kommentare und Nachrichten sichern peerspezifische Werthaltungen, sodass ein hoher Vergesellschaftungsgrad dieser Plattformen attestiert werden muss. Die Autorinnen sprechen in dieser Hinsicht von einem Schutz- und Rückzugsraum bzw. von „peerspezifischer Selbstsozialisation“ in diesen und durch diese sozialen Netzwerke.
In Bezug auf Kompetenzerwerb konstatieren Meister und Meise Gestaltungsförderung in der Erstellung von Profilen, Gruppenfinden und anderer Web 2.0-Anwendungen. Medienkritisches Verhalten wird in den sozialen Aushandlungsprozessen und den Profilaktualisierungen gefördert. Hierbei sind Jugendliche und junge Erwachsene „sehr wohl in der Lage, diese Websites ihren Bedürfnissen entsprechend sozial und medienkompetent zu nutzen.“ (S.30) Einzig der Bereich Medienkunde muss durch informelles Wissen erschlossen werden nicht über eher intuitives Nutzungsverhalten.

Maren Gaidies von studiVZ berichtet von zwei erfolgreichen Kampagnen zur Sensibilisierung in sozialen Netzwerken: watch your web, eine Kampagne, die über Gefahren im Internet aufklärt und für einen vorsichtigen Umgang mit persönlichen Daten im Netz sensibilisiert, und Respekt im Netz, einer Aktion gegen Cybermobbing.
Beide Aktivitäten wurden einer Nutzerbefragung unterzogen und statistisch ausgewertet. Dabei wurden Bekanntheitsgrad, Bewertung und Handlungsveränderung als entscheidende Items und als Erfolgsbeleg ausgewählt, selbstkritisch aber von weiteren notwendigen Unterstützungsmaßnahmen zur Erfolgssicherung gesprochen.

Daniel Poli, Projektkoordinator Jugend online, vertieft die vorher quantitativ erfassten Werte der Kampagne watch zur web in Bezug auf ihren qualitativen Beitrag zur digitalen Jugendbildung innerhalb ihrer eigenen privaten jugendkulturellen Räume als Freiräume von elterlicher und pädagogischer Kontrolle. Nach einem Aufweis der Befunde zum Nutzungsverhalten und den Spannungsfeldern präferiert der Autor in Anlehnung an Sokrates und dessen Rezeption in der systemischen Pädagogik eine „Pädagogik der Irritation“, die ihre Angebote dort macht, wo jugendliche sind, diese einbezieht und zu Multiplikatoren macht. Der Frage nach der Pädagogisierung der o.g. Freiräume scheint er – indirekt - mit der nichthierarchischen Form der Bildungskonzepte im Netz im Sinne eines „Game-Base-Learning" oder „informellen Lernens“ zu beantworten. Poli konstatiert, dass wir es „mit einem System zu haben, das sich aus seinen eigenen Elementen der Jugendkommunikation reproduziert, sich mit Hilfe spezifischer Codes strukturiert und keinen direkten Kontakt mit der Umwelt aufweist“ (S.57), so wie es watch your web in der „Figur“ Webman in neuen Wegen umsetzt. Die „digital natives“ seien nur dort zu erreichen, „wo sie tagtäglich sind: im Web 2.0.“ (S.64). Dass es sich dennoch um eine pädagogische Form der Kommunikation im Sinne von außen angeleiteten und kanalisierten/strukturierten Bildungsprozessen handelt wird nicht bewusst thematisiert, bzw. auch nicht auf das theoretische Konzept sokratischer Prägung gespiegelt.

Ibrahim Mazari und Matthias Flierl widmen sich in eher phänomenologischer Weise dem Bereich Professioneller eSport als Teil des Onlinegamings und dessen Beitrag zur Förderung von Medien- und sozialer Kompetenz. Sie konstatieren eine Förderung des räumlichen Orientierungsvermögens, der Gedächtnisfähigkeit und der Problemlösekompetenzen, ebenso wie emotionale Kompetenzen wie Gefühlsmanagement, Stressresistenz, Selbstdisziplin, Erfolgsmotivation und Ausdauer (S.79). Soziale Strukturen wie Clans und das Angebot an Mehrspieler-Spielen wirken als Korrektiv gegen soziale Vereinzelung und unterstützen die traditionellen Werte des Sports. Dies wird durch Veranstaltungen der European Sports League unterstützt, sodass im professionellen eSport-Bereich „beständige, über kurzfristige und unverbindliche „Freundschaft“ im Internet weit hinausreichende Strukturen (entstehen, F.W.), die für die Nutzer(innen) wichtig und identitätsstiftend sind.“ (S.76)

Tanja Adamus, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Köln, nähert sich dem Bereich eSport über einen theoretischen Zugang. Mit Hilfe des Medienbegriffs von Jenkins et al. überprüft sie Medienkompetenzbereiche und deren Förderung in eSport-Communitys. Sie kommt zu dem Fazit, dass Förderung „ausschließlich als Prozesse des informellen und selbstgesteuerten Lernens statt(finden, F.W.) – nicht im Rahmen entsprechend konzipierter und bewusst gewählter Angebote.“ (S.93). Die Akzeptanz eines solchen Angebot sieht sie skeptisch.
An einem Beispiel zeigt sie auch, dass die Frage verbaler Gewalt durchaus in den Communitys wahrgenommen wird und mit Hilfe spielbasierter Regeln in Rahmen gehalten werden kann. Fragen von Intensität und Suchtproblematiken werden angesprochen für den eSport aber eher verneint.

Michael Lange berichtet von seinen Erfahrungen in von Jugendliche selbst verwalteten Online-Welten. Bei der Lektüre seines Kapitels „Beobachtungen“ kamen mir Assoziationen zum Bestseller von ….. Lord of the Flies. Mit Recht resümiert er aber den Erfolg seines Projektes. Soziale und kommunikative Kompetenzen, die probehandelnd in Online-Communitys erworben wurden, können zum großen Teil auf reale Situationen übertragen werden. Niedrigschwellige Chatangebote erreichen auch eine bildungsferne Klientel und können zur Vernetzung und zum Engagement motivieren. Insofern tragen solche Angebote, so Lange, zum Erwerb von Kompetenzen bei, „die eine demokratische Gesellschaft dringend benötigt“ (S.108). Er bedauert, dass es zu wenige solcher nicht-kommerzieller Angebote im Netz gibt, weil er das Potenzial der 3-D-Welten als Lernorte sehr hoch einschätzt.

Frank Wenzel