Karl Jaroš
Das Neue Testament und seine Autoren
Eine Einführung (UTB, 3087)
Köln: Böhlau 2008
315 Seiten € 17,90
ISBN 978-3-412-20067-1
Neutestamentliche Forschung arbeitet, wie jede Wissenschaft, auch mit Hypothesen. Insbesondere die Frage, welche Schriften des NT wann entstanden sind, kann nur mit mehr oder weniger plausiblen Entwicklungsmodellen (Markuspriorität, Q usw.) beantwortet werden und wird deshalb immer wieder neu diskutiert. Nun hat Karl Jaroš, Alttestamentler und Professor für Orientalistik an der Universität Wien, ein Buch geschrieben, in dem er vielen weitgehend anerkannten Forschungsergebnissen zur Entstehungsgeschichte, Datierung und Autorenschaft der neutestamentlichen Schriften pointiert widerspricht. Das macht sein Werk zu einer gleichermaßen kurzweiligen wie irritierenden Lektüre.
In einer Einleitung (13-34) äußert sich Jaroš zunächst kritisch zur forschungsüblichen „Spätdatierung“ der Evangelien in die letzten 30 Jahre des 1. Jh. n. Chr. Im anschließenden ersten Teil behandelt er die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte (35-127), im zweiten Teil das Johannesevangelium und die Johannesbriefe (101-127), das Corpus Paulinum (129-167), die katholischen Briefe (169-183) und die Offenbarung des Johannes (185-203). Ausführungen zur Entstehung des Kanons (205-223), ein Exkurs mit mathematisch-statistischen Analysen zur formalen Sprachstruktur ntl Schriften (225-263) sowie ein Anhang mit Vergleichen zwischen ntl Texten und Apokryphen (265-295) schließen das Buch ab. Dabei sollte Jaroš’ Buch nicht mit einer der üblichen „Einleitungen“ ins Neue Testament verwechselt werden. Die Passagen zu Aufbau und Themen der neutestamentlichen Schriften sind knapp und basieren häufig, bei der Briefliteratur sogar fast ausschließlich auf einer Einleitung ins NT, die schon fast biblisches Alter aufweist (A. Robert/A. Feuillet (Hg.), Einleitung in die Heilige Schrift, Bd. II, Neues Testament, Wien 21965). Ausführlich und unter Beizug neuerer Literatur diskutiert Jaroš dagegen Fragen des Sprachstils, der Entstehungszeit und der Autorenschaft der Schriften.
Jaroš hält eine Entstehung der Evangelien deutlich vor 70 n. Chr. für wahrscheinlich: „Mk, Matth und Luk sind zeitlich versetzte Parallelerscheinungen (Mk aus dem Jahre 44, Matth aus den Jahren 50-60 und Luk vom Ende der Fünfziger Jahre) antiker Biographien Jesu, wobei Mk primär das petrinische Zeugnis schriftstellerisch verarbeitet, Matth sich vor allem auf seine Augenzeugenschaft stützt und Luk mehrere, schon schriftlich fixierte Quellen (Luk 1,1-2) zur Verfügung hat. (...) Ferner ist nicht unwahrscheinlich, daß Matth und Luk das Markus-Evangelium gekannt haben und Luk sowohl Mk als auch Matth bekannt war. Dieses Bekanntsein postuliert aber keineswegs eine direkte Abhängigkeit“ (43). Die Abfassung des Joh vermutet Jaroš zwischen „ca. 60 bis zum Frühsommer 68“ (125), wobei er die „Edition“ des Textes „noch vor 70 aber auch einige Jahre nach 70“ für möglich hält (126). Bei den Paulusbriefen liegen Jaroš’s auffälligste Thesen darin, dass er für sämtliche 14 Briefe des Corpus Paulinum, also inklusive der sog. „Pastoralbriefe“ 1/2 Tim und Tit, eine Entstehung zu Lebzeiten des Paulus zwischen 50 und 64 n. Chr. vermutet. Bei einigen Briefen hält er eine weitgehend eigenständige Autorenschaft eines Mitarbeiters – immer aber im Auftrag des Paulus – für wahrscheinlich; Hebr sei von Paulus immerhin „empfohlen und beglaubigt“ worden (166).
Wie kommt Jaroš zu diesen Thesen, die der überwiegenden Mehrheit der ntl Forschung in den meisten Fragen deutlich zuwiderlaufen? Eine wichtige Grundlage für seine Früh(st)datierung der ntl Schriften ist die schon länger vereinzelt vertretene These, dass es sich bei einzelnen in Qumran gefundenen Papyrusfragmenten um Texte aus dem NT handele (7Q4 entspricht demnach 1 Tim 3,16-4,1.3; 7Q5 soll Mk 6,52f enthalten; vgl. Jaroš, 164f und 46). Dabei nimmt Jaroš die übergroße Mehrheit der Forschenden, die die Textrekonstruktionen und Identifizierungen dieser nur wenige Buchstaben enthaltenden Papyrusschnipsel für widerlegt hält, nicht zur Kenntnis (vgl. 46 Anm. 1). Eine weitere Grundlage von Jaroš’s Thesen ist die Frühdatierung mehrerer für die ntl Textgeschichte wichtiger Papyri, z.B. des Papyrus Chester Beatty II (P46), der große Teile aus Röm, 1/2 Kor, Eph, Phil, Kol, 1 Thess und Hebr enthält: Die Fachliteratur (inkl. Nestle-Aland) datiert P46auf etwa 200 n. Chr., Jaroš setzt ihn dagegen „etwa um 80“ an (129; 213f).
Schließlich arbeitet Jaroš auch mit Statistiken zur formalen Sprachstruktur einiger neutestamentlicher Schriften (Häufigkeit der einzelnen Wortklassen, Verknüpfung der einzelnen Wortklassen miteinander usw., vgl. 225-263), mit der er Anhaltspunkte zur Autorenschaft erheben will. Hier konstatiert Jaroš – mehrheitlich wenig überraschend – für Mk, Joh, Lk, Röm, 1 Kor, Hebr und Offb eine „unterschiedliche formale Sprachstruktur, die je autorenspezifisch ist“ (263). Bei näherem Hinsehen sind die Ergebnisse jedoch wenig aussagekräftig, da die festgestellten „Abweichungen“ in der formalen Sprachstruktur nahe beieinander liegen: Sämtliche (!) untersuchten Evangelien weisen untereinander in jeder beliebigen (!) Kombination eine Abweichung von etwa 21 % auf; die Abweichung zwischen den Evangelien und den untersuchten Briefen beträgt – wiederum in jeder beliebigen Kombination – etwa 37 %; dazwischen liegen die untersuchten Briefe, die in jeder beliebigen Kombination untereinander eine Abweichung von etwa 25,5 % aufweisen.
Die Schwankungsbreite bei diesen (vom Rezensenten auf der Grundlage von Jaroš’s Zahlen erhobenen) Durchschnittswerten ist gering. Ähnliche Regelmäßigkeiten ergeben sich auch, wenn die Josephus-Texte einbezogen werden, die Jaroš als Vergleichstexte für seine statistischen Erhebungen heranzieht. Dies könnte darauf hindeuten, dass bei den untersuchten Texten die Schriftgattung und die behandelten Themen einen erheblich größeren Einfluss auf die formale Sprachstruktur hat als die Autorenschaft – ein Aspekt, der von Jaroš gar nicht erst diskutiert wird. Auch sonst interpretiert Jaroš seine Ergebnisse z.T. eigenwillig. So sind z.B. die von Jaroš erhobenen Unterschiede in der formalen Sprachstruktur zwischen Mk und Lk geringfügig kleiner (!) als zwischen Lk und Apg (18,6 % gegenüber 19,5 %). Das veranlasst Jaroš jedoch nicht zu Zweifeln oder zur Suche nach alternativen Modellen bei der Interpretation seiner Statistiken, sondern wird von ihm auf die alexandrinische Textüberlieferung der Apg zurückgeführt (262). Mögliche Gegenargumente gegen seine Thesen versucht Jaroš nicht bei der Detaildiskussion zu seinen Datierungsvorschlägen, sondern v.a. pauschal in seiner Einleitung (13-34) zu entkräften. Dabei ist es besonders ärgerlich, dass er die Diskussion öfters nicht mit aktuellen, sondern längst überholten Forschungspositionen führt. So behauptet er z.B., zu den „gängigsten Argumenten“ für eine Spätdatierung der Evangelien gehöre die Aussage: „Wunder kann es nicht geben. Auch Jesus von Nazareth konnte keine Wunder wirken“ (19). Als Beleg dafür verweist er auf H.S.R. Reimarus (1694-1768) und D.F. Strauß (1808-1874), die wesentlich differenziertere Forschung der letzten Jahrzehnte (G. Theißen, U. Metternich, B. Kollmann und viele andere) verschweigt er nahezu vollständig. Ähnlich undifferenziert und weit an der aktuellen Forschung vorbei argumentiert er in der Frage, ob die Jesusworte über eine Zerstörung des Tempels als echte Prophezeiung zu verstehen sind oder ob ihre konkrete, je unterschiedliche Textform in den Evangelien (Mk 13 parr) auch im Rückblick auf die tatsächlich erfolgte Eroberung Jerusalems durch Titus 70 n. Chr. entstanden ist. Für Jaroš ist nach kurzer Diskussion klar: „Die Annahme von vaticinia ex eventu ist unhaltbar!“ (29). Trotz dieser grundlegenden methodischen und inhaltlichen Kritik sind einzelne der von Jaroš vertretenen Positionen diskussionswürdig; zum Hebr nehmen beispielsweise die Frühdatierungen (vor 70 n. Chr.) in der letzten Zeit zu. Doch insgesamt liegen in Jaroš’s Buch „Dichtung und Wahrheit“ oft allzu eng nebeneinander. Dies wird auch an seinen Ausführungen zur Kanonfrage noch einmal deutlich: Jaroš behauptet, dass „die hier vorgetragene Hypothese, um 80 hätte bereits eine (…) Ausgabe des Neuen Testaments existiert, die mit der späteren kanonischen Ausgabe identisch ist, keine schlechten Argumente für sich verbuchen kann“ (223).
Wer sich mit alternativen Positionen zur Entstehungsgeschichte, Datierung und Autorenschaft der neutestamentlichen Schriften auseinandersetzen möchte, wird an Jaroš’s Buch helle Freude haben – und lange damit beschäftigt sein, die Gegenargumente zu seinen Thesen aus der Fachliteratur zusammenzusuchen, da Jaroš oft weder die einschlägige Literatur noch ihre Thesen diskutiert, sondern sie häufig nur pauschal zurückweist. Wer dagegen nach einer auch nur halbwegs konsensfähigen Einführung in die Text- und Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments sucht, ist mit dem Buch schlecht bedient. Dieser Umstand macht es auch fragwürdig, dass das bei Böhlau verlegte Werk ausgerechnet in der Reihe UTB Theologie/Religion erschienen ist: Das Vertrauen, das dieser Reihe wegen der dort publizierten Standardwerke üblicherweise entgegengebracht wird, wird durch die teils extremen Minderheitenpositionen, die Jaroš auf methodisch leicht anfechtbarer Grundlage vertritt, auf eine ernsthafte Probe gestellt.
Detlef Hecking
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 12/2008