Pascal Boyer
Und Mensch schuf Gott
Stuttgart: Klett-Cotta 2009 (2. Auflage)
428 Seiten
ISBN 978-3-608-94032-9
Seit Euhemeros und Lukrez erstmalig den Verdacht äußerten, religiöse Akte könnten von den Priestern zur Erhaltung ihrer Arbeitsplätze erfunden worden sein, ist diese These, nicht Gott habe den Menschen, wohl aber der Mensch Gott nach seinem Bild geschaffen, immer wieder aufgegriffen worden. Marx zufolge war die Religion erfunden worden, um die ihrer Arbeit Entfremdeten von der Revolution abzuhalten, Freud zufolge war sie nichts weiter als missverstandener Ausdruck sublimierter Triebe. Alle diese religionskritischen Ansätze machten für sich das Pathos der Wissenschaftlichkeit geltend, womit sie die religiösen Menschen automatisch zum Forschungsobjekt degradierten.
Aber Menschen sind Forschungssubjekte, sie erkennen, wo die Erfahrungsgrundlage einer Theorie allzu dünn ist, und sie messen einen gedanklichen Ansatz an seinen Folgen. Und von keinem einzigen religionskritischen Ansatz wird man sagen können, er sei heute gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisstand.
Nun also Pascal Boyer, der auf kognitionswissenschaftlicher Grundlage der Religion den Garaus machen will. Einen Schlüsseltext zum Verständnis des zu rezensierenden Werkes möchte ich aus drei von mir zusammengestellten Sätzen bilden:
• Spezifische Erkenntnissysteme wurden durch die natürliche Auslese passgerecht entwickelt, um spezifische Milieuprobleme unserer Vorfahren zu lösen. [161]
• Von entscheidender Wichtigkeit für unsere Spezies sind mentale Anpassungen ans soziale Leben, weil Informationen (solche, die uns Artgenossen liefern) die ökologische Nische des Menschen darstellen.[161]
• Der Geist, der uns zur Religion disponiert, weist den normalen Aufbau auf, die ihm kraft unserer Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies zukommt.[169]
• Der Erfolg religiöser Vorstellungen hängt wahrscheinlich von ihrer Fähigkeit ab, Erkenntnissysteme zu aktivieren,[169] die allerdings ohne Religion mindestens genau so gut funktionieren.
Kognitionswissenschaft kommt zum Einsatz, weil der zentrale Begriff dieser Argumentation das „Erkenntnissystem“ ist. Boyer benennt als Beispiele das Begreifen der Physik fester Objekte, das Begreifen von Ursachenwirkungsverhältnissen, das Feststellen zielgerichteter Bewegung eines Tieres, das Verstehen des Mechanismus der Vorstellungen. [122-124], Es sind also physikalische, lebendige und personale Strukturen, die wir ohne weiteres begreifen können, ohne sie miteinander zu verwechseln. Als einzige wissenschaftliche Erklärung dieser Fähigkeiten lässt Boyer die Evolution zu: Aus Wissenschaften wie Evolutionsbiologie, Psychologie, Archäologie und Ethnologie wissen wir, dass ein bestimmtes Ensemble von Faktoren die kollektive und unsichtbare Hand der kulturellen Evolution bildet. [360] Dem stellt er gegenüber eine Menagerie mentaler Prozesse [364], die uns zu Abweichungen von normgerechtem Schließen verführen [364]: Zum Beispiel neigen wir dazu, unseren Eindruck von einer Szene der Beschreibung anderer, vor allem der Autoritätsperson, anzupassen, wir täuschen uns in unseren Erinnerungen, wir überprüfen die Quellen unseres Wissens nur mangelhaft, und wir verdrängen Widersprüche zwischen neuen und alten Einsichten. [363f] Für Boyer entsprechen die Situationen, in denen es um Eignung und Nutzung von Informationen über übernatürliche Akteure geht, selbstverständlich den Abweichungen vom normgerechtem Schließen. Religion ist also eine auf Missverständnissen beruhende Selbstinterpretation der menschlichen Erkenntnissysteme.
Zum Hauptargument des Buches will ich zwei Kritikpunkte nennen:
(1) Wenn der Unterschied zwischen normgerechtem und fehlerhaftem Schließen so exakt mit dem zwischen wissenschaftlichen und religiösen Interpretationen zusammenfällt, wie kommt es dann zu folgendem Eingeständnis? Natürlich sind das sehr bruchstückhafte und zweideutige Befunde, aber das gilt für die meisten Ergebnisse der Neuropsychologie [373]. Wie normgerecht ist der Schluss von zweideutigen Befunden auf die eindeutige Abqualifizierung des Phänomens Religion, das in seiner ganzen Vielfalt noch nicht einmal der Religionswissenschaft bekannt ist, geschweige denn in einem einzigen Buch gewürdigt werden könnte.
(2) Mit Recht übt Boyer Kritik an dem Abstraktum Religion: Es gibt lediglich eine Vielzahl von Vorstellungen, denen Menschen anhängen, eine Vielzahl von Kommunikationsakten, die ihnen mehr oder weniger Plausibilität verleihen, eine Vielzahl von Schlussfolgerungen, die in vielen Kontexten bereitgestellt werden. [386] Entsprechend dreht Boyer am Anfang seines Buches auch die evolutionäre Fragestellung um: Es gelte nicht zu erklären, wie sich aus einem Ursprung die Vielfalt der Religionen gebildet habe, sondern wie die vielen religiösen Ideen reduziert worden seien. [46] Wie passt das dazu, wenn am Ende des Buches die gesamte Geschichte aller Religionen (aller Zeiten) auf zwei Seiten geschildert wird?
Außer diesen Widersprüchen, die die Kernthese des Buches infrage stellen, gibt es viele Ärgerlichkeiten; es sei nur auf eine einzige eingegangen: Ein Kennzeichen echten Glaubens ist es ja, erklärt Boyer, sich kaum um dessen Ursprünge zu kümmern, um die Frage, wie er zum Dauergast in unserem mentalen Haushalt werden konnte. [361] Das kann nur behaupten, wer jede Offenbarungstheologie in Bausch und Bogen für irrelevant erklärt. Auch die Philosophie - für Boyer nichts als Selbstbeobachtung und logisches Denken - kommt zum Abraum der Geschichte, da Psychologie beides durch experimentelle Studien ersetzt habe.[363] Über die Laien sagt Boyer: Die meisten Christen verbringen kaum Zeit damit, über das Mysterium der Dreifaltigkeit, die Auferstehung des Fleisches und andere theologische Wunder nachzugrübeln. [383] Als Kirchgänger erlebe ich Mitchristen, die einer Predigt lauschend genau das tun, und meine Schülerinnen und Schüler interessieren sich sehr für theologische Kernthemen.
Beruhte Religion alleine darauf, gedankenlos die Vorstellung der Älteren zu übernehmen [383], dann dürfte es Menschen, die sich aus Frustration über eine Welt ohne Religion der Kirche zuwenden, gar nicht geben. Es gibt sie aber. Und das trotz der vielen „normgerechten“ Schlussfolgerungen Boyers und Dawkins und der anderen Religionskritiker.
Dr. Karl Vörckel