Unterricht mit der Bibel

Buchvorstellung - 09.03.2010

Tanja Schmidt
Die Bibel als Medium religiöser Bildung
Kulturwissenschaftliche und religionspädagogische Perspektiven
(Arbeiten zur Religionspädagogik, 34)

Göttingen : V & R unipress 2008
243 Seiten
€ 28,90
ISBN 978-3-89971-427-2

Die religionspädagogische Studie von Tanja Schmidt wurde im Wintersemester 2006/07 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Sie verfolgt das Ziel, „die Chancen eines reflektierten Unterrichts mit der Bibel wieder verstärkt in den Fokus der religionspädagogischen Aufmerksamkeit zu rücken und die Bibeldidaktik dadurch zu stärken, dass sie religionspädagogisch und bildungstheoretisch fundiert wird“.
 

(203). Hierfür unterzieht Schmidt die bibeldidaktischen Entwürfe von Horst-Klaus Berg und Ingo Baldermann einer kritischen Revision und entwickelt eine eigene Perspektive. In der Einleitung (13–39) skizziert Schmidt das aktuelle Feld der religionsdidaktischen Ansätze, das sie von zwei Hauptrichtungen geprägt sieht: vom subjektorientierten Ansatz (H. Luther) und von phänomenologisch und kulturtheologisch ansetzenden Entwürfen (G. Buschmann, H.-G. Heimbrock, W. Gräb). Beide Richtungen, „konstruieren einen Antagonismus zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Tradition“ (31), beurteilen die didaktischen Chancen der Bibel im Religionsunterricht skeptisch und setzen stattdessen bei der Individualitätsentwicklung der Jugendlichen an. Schmidt kritisiert die einseitige Fokussierung auf die Lebenswelt der Heranwachsenden, das nach negative Verständnis von Tradition und eine problematische Auffassung von Individuation, in deren Folge eine „Inhaltsentleerung des Religionsunterrichts“ (33) stehe. Dagegen betont sie die Chancen, die gerade die Eigenrationalität der Bibel „für die Identitätsbildung des Einzelnen als auch für die Kultur im Ganzen“ (38) biete. Um dies bildungs- und gesellschaftstheoretisch zu fundieren, greift sie auf die Ansätze Bergs und Baldermanns zurück und beleuchtet dies im Blick auf Leitvorstellung, Individualitätsverständnis, biblische Hermeneutik und praktische Methoden (vgl. 39). In der Auseinandersetzung mit Berg (41–109) widerspricht sie zunächst dessen Analyse der Lebenswelt moderner Jugendlicher, deren wesentliches Merkmal in der Fremdbestimmung durch die „Bedrohungsgesellschaft“ (62) bestehe, und kritisiert die daraus abgeleiteten biblischen „Lernbedürfnisse“, die Berg in der Selbstfindung und inneren Identitätsstärkung sieht. Anhand von Ergebnissen aktueller Jugendforschung sowie soziologischer Studien (N. Luhmann) legt sie dar, dass angesichts der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft Heranwachsende heute geradezu unter einem Zwang zur Individualisierung stehen (73) und ihre Identität selbstverantwortlich „aus einer Fülle von Teilidentitäten“ (55) entwerfen müssen. Bergs individuumszentrierter Ansatz verschiebe gesellschaftlich bedingte Probleme ins Subjektinnere und stehe daher in der Gefahr, „die gesellschaftsstrukturell bedingte Selbstzentriertheit und psychische Instabilität von Heranwachsenden zu verstärken, anstatt ihr entgegen zu wirken.“ (74) Dieser Kritik stellt Schmidt die positive Würdigung von Bergs „Kontextdidaktik“ (74–76) entgegen, die nach Analogien zwischen biblischem Entstehungskontext und Gegenwartskontext sucht und die Gegenwart aus der Perspektive der biblischen Freiheits-und Gerechtigkeitstradition kritisch beleuchtet. Schmidt liest Bergs Kontextdidaktik im Licht der Theorie des kulturellen Gedächtnisses Jan Assmanns (78–88), der die identitätsbildende und gesellschaftskritische Funktion der Erinnerung betont. Sie unterstreicht, dass die Bedeutung der Religion als kulturelles Gedächtnis gerade angesichts der drohenden „kulturellen Amnesie“ (85) kaum zu überschätzen sei. Als problematisch sieht sie freilich an, dass Berg den Religionsunterricht unter das Postulat der Gesellschaftsveränderung stelle und die Bibel für moralisierende Handlungsimpulse instrumentalisiere (88–94). Die normgebende Kraft biblischen Unterrichts bestehe vielmehr darin, an „komplexe ... Deutungs-und Handlungsmuster“ (95) zu erinnern und durch die implizite Einladung zur Identifikation „eher beiläufig sozialisierend“ (97) zu wirken. An Bergs Methoden der Bibelauslegung würdigt Schmidt daher zwar deren Vielfalt und Erfahrungsbezug, sieht jedoch in der Intention direkter Umsetzbarkeit eine moralische Vereinnahmung der biblischen Texte. Das 3. Kapitel (111–168) widmet sich der Bibeldidaktik Baldermanns. Schmidt unterstreicht sein Grundanliegen, „Kindern und Jugendlichen eine tragfähige Hoffnung und Lebensgewissheit zu vermitteln“ (115) sowie die didaktische Aufgabe der Bibel, eine Alphabetisierung in der Sprache der Hoffnung zu leisten, da Heranwachsende eine solche nicht in sich selbst finden könnten. Positiv bewertet Schmidt Baldermanns Ansatz eines interaktiven und identifikatorischen Zugangs, in dem biblische Texte Resonanzräume und Sprachmuster für die Fragen und Erfahrungen Heranwachsender anbieten. Diese bescheidene „Ermöglichungsdidaktik“ (121) entspreche konstruktivistisch-pädagogischen Theorien über den Lern- und Bildungsprozess, der in der vom „kognitiv autonomen“ Subjekt abhängigen „Bedeutungszuschreibung“ (119f.) bestehe. Positiv sieht Schmidt auch Baldermanns Didaktik der Psalmen (124–140) und der biblischen Erzählungen (141– 147): Psalmen stellen Sprachmuster der Klage, Hoffnung oder Freude bereit, die eigenes religiöses Erleben prägen können; Erzählungen haben identitätsbildende Kraft, da sie eine Identifikation auf Probe anbieten und ermöglichen, religiöser Vorstellung Struktur und Deutung zu geben. Kritisch sieht Schmidt Baldermanns Betonung der unmittelbaren Zugänglichkeit biblischer Texte, die sich auch in seinen Methoden zeigt (150–168). Er tendiere dazu, „die Einsichten der historischen Wissenschaft gering zu schätzen“ (151) sowie die Rolle der Lehrperson zu passiv anzulegen (154f.). Im 4. Kapitel (169–202) schließt Schmidt ihren eigenen Theorie-Entwurf religiöser Bildung an. Hierzu stellt sie Baldermanns Ansatz auf die theoretische Grundlage der konstruktivistischen Systemtheorie Luhmanns. Sie arbeitet heraus, dass religiöse Bildung „ohne die erfahrungsorientierte Erkundung und Erprobung der Binnenperspektive einer konkreten Religion“ nicht möglich ist, dass der Religionsunterricht aber auch „auf das reflektierte und differenzierte Reden über Religion“ (184f.) bzw. auf die diskursive Beschäftigung mit biblischer Tradition und Symbolik (187) nicht verzichten darf. Auch wenn Identitätsbildung autopoietisch erfolge, so hänge sie doch „von den Selektionsofferten der gesellschaftlichen Kommunikation“ ab (197). Daher sind auch „Kommunikationsformen der biblischen Überlieferung Medium einer komplexen Persönlichkeitsentwicklung“ (197). Das letzte Kapitel (203–226) dient der zusammenfassenden Konturierung von Schmidts Position im Kontext aktueller religionspädagogischer Fragestellungen. Mit Luckmann warnt Schmidt vor einer „Sakralisierung des Ich“ (203), die nicht berücksichtigt, dass Heranwachsende heute „unter dem gesellschaftlichen Zwang zur Selbstbestimmung und Selbstfindung“ (204) stehen und zugleich den standardisierten Selbstverwirklichungsmodellen der Medien-und Konsumwelt ausgeliefert sind. Identität entwickelt sich in Auseinandersetzung mit den Modellen und Deutungsmustern der sozialen Umwelt. Gerade die biblischen Traditionen bieten Heranwachsenden fundierende Symbole und Geschichten, die den Alltag hinterfragen und durch die Erinnerung an „Modelle gelungenen Lebens“ Identifikationsfiguren und Handlungsmuster vorstellen. Der biblischen Sprache komme dabei herausragende Funktion zu: Sie sei „Ankerpunkt und Reservoir“ (217) für die religiöse Phantasie und Ausdrucksfähigkeit der Heranwachsenden. Der These, dass religiöse Identität das „Resultat eines optionalen Wahlaktes aus einem vielfältigen ... Sinnangebot“ (217) sei, hält Schmidt entgegen, dass die fehlende Vertrautheit mit einer konkreten religiösen Kommunikationsform zu Indifferenz und Sprachlosigkeit (221) führe. Sie beschließt ihre Studie mit dem Hinweis auf die besondere Verantwortung der lehrenden Person im biblischen Unterricht, da deren Authentizität „für das Gelingen von biblisch fundierten Bildungsprozessen“ eine zentrale Rolle spiele (225). Insgesamt hat T. Schmidt eine stringente und anregende Studie vorgelegt. Es gelingt ihr auf überzeugende Weise, die konstruktiv-kritische Durchsicht der bibeldidaktischen Klassiker Bergs und Baldermanns mit einer engagierten (Neu¬)Profilierung der Bibel als Medium religiöser Bildung zu verbinden. Ihrem fundierten Plädoyer für die Unverzichtbarkeit der Bibel im Religionsunterricht ist breite Rezeption zu wünschen.

Susanne Ruschmann

Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 2/2010