Sonja A. Strube
Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft
Eine empirisch-exegetische Studie auf der Basis von Joh 11,1-46
Münster : Lit-Verlag 2009
448 Seiten
€ 39,90
ISBN 978-3-643-10095-5
In seinen Eröffnungsworten zur Bischofssynode über das Wort Gottes äußerte sich am 14.10.2008 Papst Benedikt XVI. zu methodologischen Fragen der Exegese. Er mahnte nachdrücklich an, dem „Dualismus zwischen Exegese und Theologie ein Ende zu bereiten.“ Er verband diese Forderung mit einer Kritik am „sogenannten ‚Mainstream’ der Exegese in Deutschland“. Umso interessanter ist es, zu sehen, dass in den letzten fünf Jahren neben Sammelbänden und Aufsätzen allein drei Qualifizierungsarbeiten deutscher Universitäten sich mit bibelpastoralen Fragestellungen auseinandersetzten.
Die Kritik des Papstes kommt also gewissermaßen zu spät: Es gibt ein starkes Interesse von Exegeten und Exegetinnen am Brückenschlag zwischen Exegese und Theologie, speziell zwischen Exegese und Pastoral. Den Anfang machte die Dissertation von R. Huning, der auf der Suche nach einer „Bibelwissenschaft im Dienste popularer Bibellektüre“ das Werk des brasilianischen Befreiungstheologen Carlos Mesters zur Entwicklung einer Methodik der Bibellektüre für heutige Lebenskontexte heranzog (vgl. Rezension in BiKi 1/2007, 67f und Beitrag in BiKi 1/2008,40ff). Im Rahmen des interdisziplinären DFG-Pro-jektes „Bibelverständnis in Deutschland“ wurden die Grundlagen für die Dissertation von Ch. Schramm gelegt (vgl. dazu den Beitrag in BiKi 2/2009, 114ff). Seine Untersuchung „Alltagsexegesen. Sinn¬konstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten“ ist qualitativ-empirisch angelegt: Auf der Grundlage des Milieumodells von G. Schulzes „Die Erlebnis-Gesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart“ wurden zwölf Gruppen aus unterschiedlichen Milieus zwei Bibeltexte (Mt 5,38-48 und Mk 5,24b-34) als Gegenstand einer Gruppendiskussion vorgelegt. Forschungsziele waren die Rekonstruktion des Verstehensvorgangs (S. 23) und die Erfassung von Lesestrategien und ihren Verhältnissen zu wissenschaftlichem Lesen (S. 24). Nach vier Gesichtspunkten werden die Gruppen nach ihren Herangehensweisen befragt (S. 75-117): Methodisches Vorgehen, Textwahrnehmung und Hypertextrekonstruktion, Identifikation/Kritik und Strategien der Sinnkonstruktion. Schramm ermittelt daraus die sechs grundlegenden Lesestrategien (Übersicht S. 468ff): Die „Alltagsexegesen“ lassen sich unterteilen in übersetzen, kritisieren und selektieren, jeweils mit negativer wie positiver Grundausrichtung. Die hermeneutische Auswertung und der Vergleich mit wissenschaftlicher Exegese bilden Teil III (S. 473¬523). Innovativ an der Arbeit ist, dass die real existierenden konkreten Leser und Leserinnen in ihrem Textverständnis ernst genommen werden. Damit ist der „alltägliche Bibelkonsument, ins Rampenlicht gerückt worden“ (S. 474). Zwei hochinteressante Ergebnisse sind dabei festzuhalten: Nichtfachleute gehen keineswegs unmethodisch vor. Bestimmend für das Textverstehen ist der Orientierungsrahmen, den die Lesenden mitbringen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit wissenschaftliche Exegese in vergleichbarer Weise vom Orientierungsrahmen geprägt ist, den sie viel stärker artikulieren müsste, statt objektiv zu bleiben (S. 508-523). Die Arbeit mündet in drei Postulate an die wissenschaftliche Exegese: Wissenschaftliche Exegese muss die alltägliche Bibelauslegung höher wertschätzen und sich interessierten Nichtexegetinnen verständlich präsentieren. Die Zeitschriften des Bibelwerks sind ein positives Beispiel für dieses angestrebte Ziel.
In vielerlei Hinsicht gibt es Berührungspunkte mit der Habilitationsschrift von S. A. Strube. Die Arbeit ist im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Die Bibel – ihre Entstehung und ihre Wirkung“ entstanden. Auch sie untersucht empirisch das „Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft“. Strube möchte, dass Exegese dazu beiträgt, die Bibel als „ein bleibend aktuelles Glaubens- und Lebensbuch auch für heutige und hiesige Menschen“ zu erschließen. In zehn Einzelinterviews werden Lese- und Verstehensstrategien gläubiger und nichtgläubiger Menschen ohne theologische Ausbildung beobachtet. (Siehe auch den Beitrag von S. A. Strube, S. 216ff in diesem Heft.) Als Text wählt sie Joh 11,1-46. Spannend ist dabei das Ergebnis, dass alle Interviewten von den Bibeltexten lebenspraktische Relevanz erwarten (S.158f). Insgesamt ist erstaunlich, wie sehr die AlltagsleserInnen hermeneutisch und methodisch reflektiert mit dem Text umgehen. In ihrem 3. Kapitel wertet Strube zehn neuere deutschsprachige Untersuchungen von Joh 11 aus. Dabei fallen eine große Homogenität der Ergebnisse und das starke Interesse an der Verkündigungsabsicht des Textes auf. Trotzdem kommen die Arbeiten teilweise zu konträren Ergebnissen (S. 317f)! Den Grund dafür sieht Strube in dem unvermeidlich subjektiven Moment, wenn die „reinen Textbeobachtungen verlassen und die Frage nach ihrer Bedeutung und ihrem Sinn gestellt wird.“ (S. 318f).Nachdem sie Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Exegesen und Interviews detailliert aufschlüsselt, beobachtet Strube Folgendes:
AlltagsleserInnen sind alles andere als willkürlich und am Gespräch mit exegetischen Fachleuten interessiert. Das explizite „Ich“ der Alltagslektüre hilft, den Text als Gegenüber wahrzunehmen. Jede Lektüre kann allenfalls zu Interpretationen, nicht aber zu Eindeutigkeiten führen. Genau diese Uneindeutigkeit ist religiös bedeutsam, kann sie doch als „Freiraum, in dem sich das eigene Sprechen von Gott entfaltet“ (S. 395), verstanden werden. Aus all dem ergibt sich für Strube die Notwendigkeit, eine „Praktische Exegese“ zu etablieren, die den Methodenkanon um empirische Elemente erweitern würde. Ihre Kennzeichen sind der Kontextbezug und das Hören auf das Gottesvolk (S. 401). So könnte die Sprachlosigkeit zwischen Forschung und Praxis abgebaut und die Bibel als ein dem ganzen Volk Gottes gehörendes Buch neu entdeckt werden. Die besprochenen Arbeiten beinhalten wichtige Impulse, die eine Verankerung der Exegese in der Pastoral fördern können. Ihnen sind nicht nur viele Leser und Leserinnen zu wünschen, sondern vor allem viele, die das „Wort nicht nur hören, sondern danach handeln.“
Eleonore Reuter
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 12/2009