Peter Lampe/ Moisés Mayordomo/ Migaku Satu (Hg.)
Neutestamentliche Exegese im Dialog
Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium. Festschrift für Ulrich Luz zum 70. Geburtstag
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2008
376 Seiten, € 39,90
ISBN 978-3-7887-2283-8
Der Berner Neutestamentler Ulrich Luz ist einem größeren Leserkreis besonders durch seinen monumentalen vierbändigen Kommentar zum Matthäusevangelium (EKK I/1-4) bekannt geworden. Er hat darüber hinaus zahlreiche weitere Arbeiten zu anderen biblischen Schriften sowie zu Themen neutestamentlicher Theologie verfasst. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Wirkungsgeschichte neutestamentlicher Texte, die in seinem Matthäuskommentar durchgehend berücksichtigt und für das Verständnis der biblischen Texte fruchtbar gemacht wird.
Viele seiner Arbeiten liegen in Übersetzungen vor, u.a. in englischer, spanischer, japanischer, ungarischer, rumänischer oder russischer Sprache.
Die Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Luz knüpft an seine Schriften und an die Internationalität seines Schaffens an. 23 Autoren – tatsächlich sind alle Verfasser männlich – unterschiedlichster Provenienz haben jeweils relativ kurze Aufsätze von durchschnittlich ca. 15 Seiten verfasst, die sich in unterschiedlicher Intensität auf die Arbeiten des Geehrten beziehen. Die meisten Beiträge sind in deutscher Sprache geschrieben oder in sie übersetzt, sechs Beiträge sind in englischer, einer in französischer Sprache. Auch stilistisch sind die Beiträge vielfältig: Sowohl essayistische Artikel wie auch detaillierte exegetische Fachuntersuchungen, für die eine Kenntnis des Griechischen erforderlich ist, sind vorhanden.
Das Matthäusevangelium steht im Zentrum dieser Festschrift, auch wenn die Beiträge (nicht zuletzt aufgrund der Arbeitsschwerpunkte der verschiedenen Autoren) nicht darauf beschränkt bleiben. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil enthält unter dem Titel ›Theologie und Hermeneutik‹ neun recht verschiedene Einzelstudien. Im zweiten Teil, der unter dem Stichwort ›Das Matthäusevangelium: Exegese und Wirkungsgeschichte‹ steht, finden sich die Beiträge zum Matthäusevangelium, die ihrerseits in einen Teil A (›Allgemeine Studien‹ und einen Teil B (›Einzelne Stellen‹) mit je sieben Aufsätzen verteilt werden.
Teil I:
Walter DIETRICH (3-15) macht semantische Beobachtungen zur Weg-Metaphorik im Alten und Neuen Testament. Ulrich H.J. KÖRTNER (17-31) stellt aus systematisch-theologischer Perspektive Überlegungen zur Anthropologie an und macht die ›Geburtlichkeit‹ des Menschen für den Personbegriff fruchtbar. Christian LINK (33-43) nimmt Fragen aus einem gemeinsamen Hermeneutik-Seminar mit U. Luz zum Wahrheitsgehalt biblischer Aussagen auf und reflektiert den Vorgang des Verstehens biblischer Texte unter der Leitfrage, wie gegenwärtige Leserinnen und Leser mit ihren Erfahrungen in die Texte hineinkommen. Moisés MAYORDOMO (45-69) veröffentlicht an dieser Stelle seinen sorgfältig gearbeiteten Habilitationsvortrag zu Möglichkeiten theologisch begründeter ethischer Kritik an biblischen Texten. Als Beispiel dienen Gewalttexte aus der Offenbarung des Johannes. Zwischen sachlich fragwürdigen und wenig befriedigenden Erklärungsmodellen einerseits und einer völligen Verwerfung solcher Texte andererseits sucht der Verfasser nach Wegen für einen hermeneutischen Dialog mit den Texten und diskutiert Recht und Grenze ethischer Kritik. Akira OGAWA (71-83) steuert einen Artikel zur Parabeltheorie bei. Migaku SATO (85-97) nimmt das Interesse des Jubilars am Dialog zwischen Christentum und Buddhismus auf und wagt einen religionswissenschaftlichen Vergleich zwischen Zen und Gnosis. Manabu TSUJI (99-110) sucht am Beispiel von 1Tim 2,1-3 und Tit 3,1-2 und ihrem Bezug auf Röm 13,1-7 nach Maßstäben für die Bewertung unterschiedlich intensiver literarischer Abhängigkeiten. Samuel VOLLENWEIDER (111-120) nimmt in einem kurzen, äußerst anregenden Essay Thesen von U. Luz zur Aufgabe der Exegese in der Postmoderne auf und fragt nach der Rolle, die die Exegese innerhalb der Kulturwissenschaften spielen könnte. Schließlich stellt Seeichi YAGI (121-131) sein mitteleuropäischem Denken sehr fremdes Konzept einer ›Bashologie‹ (Ineinandersein) im Neuen Testament vor.
Teil IIA:
Die Reihe von allgemeinen Studien zum Matthäusevangelium eröffnet ein Beitrag von Petr POKORNÝ (135-147), der die Rolle, die den Evangelien im Prozess der Tradierung der Jesusworte und der Herausbildung der frühen Kirche zukommt, in literaturgeschichtlicher und theologischer Hinsicht thematisiert. Ihm folgt ein weiterführender Artikel von James D.G. DUNN, der darauf aufmerksam macht, dass das Matthäusevangelium als Gründungstext des frühen Christentums nicht nur eine immense Wirkungsgeschichte freigesetzt habe, sondern seinerseits bereits das Ergebnis einer Wirkungsgeschichte sei, die auf Worte des historischen Jesus zurückgehe, die zunächst mündlich gesammelt und tradiert wurden. Diese mündlichen Vorstufen müssten, so Dunn, bei der Rekonstruktion der Traditionsgeschichte viel mehr beachtet werden, da mit der traditionellen 2¬Quellen-Hypothese (die er prinzipiell nicht in Zweifel zieht) nicht alle synoptischen Differenzen erklärt werden könnten. Dunn vertritt die These, dass Markus, Q und Matthäus sich relativ frei aus diesen mündlichen Quellen bedient hätten, womit er den unterschiedlichen Wortlaut bei sachlich gleichem Inhalt zwischen den Synoptikern zu erklären vermag. Armand PUIG I TÀRRECH (167-181) beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Kirche und Israel im Matthäusevangelium und sieht in der matthäischen Gemeinde eine ›christliche Synagoge‹ aus Juden und Heiden, die für beide Seiten offen steht. Heikki RÄISÄNEN (183-195) bietet eine Art Werkstattbericht zum Umgang mit dem Matthäusevangelium im Bibliodrama. Er schlägt vor, den Autor des Textes (›Matthäus‹) als Rolle im Spiel einzusetzen. So kann auch dessen Perspektive und die Intentionen seiner Darstellung im Spiel in den Blick geraten und auf diese Weise eine Verbindung zwischen den Ergebnissen historisch-kritischer Bibelauslegung und dem Bibliodrama gelingen. Direkt an das Luz’sche Interesse an der Wirkungsgeschichte biblischer Texte anknüpfend bietet Christopher ROWLAND (197-211) einige Interpretationen von Mt 11,25 vom Mittelalter bis in die Gegenwart, die nicht aus dem Mainstream der Bibelexegese stammen, sondern von dessen Rand. Er macht darauf aufmerksam, dass auch solche Textinterpretationen ihre Berechtigung haben und zu Verständnismöglichkeiten und Handlungsoptionen anregen können, die sonst aus dem Blick gerieten. Auch marginalisierten Bibellesern sei eine Stimme zu geben. Ebenfalls in wirkungsgeschichtlicher Perspektive arbeitet Jens SCHRÖTER (213-235), indem er die Hermeneutik der Schriftauslegung des Origenes untersucht und ihn als einen in seiner Zeit sehr aktuellen Ausleger des Matthäusevangeliums vorstellt, der sich philologisch und historisch auf der Höhe der Zeit bewege. Diesem letztlich philosophischen Anspruch müsse sich auch heutige Wissenschaft unter den Bedingungen historisch-kritischer Herangehensweise an die Texte stellen. Diesen Teil des Buches schließt ein pointierter Beitrag zur matthäischen Ethik von Gerd THEIßEN (237-254) ab, der die ethischen Summarien im Matthäusevangelium zwischen einer Regel- und einer Empathieorientierung verortet.
Teil IIB:
Im letzten Teil des Buches finden sich exegetische Fachartikel zu einzelnen Textstellen des Matthäusevangeliums. Matthias KONRADT (257-273) untersucht die Taufperikope (Mt 3,13-17) und darin insbesondere die strittige Bedeutung des Wortes ›Gerechtigkeit‹, die er als ›Gehorsam des Gottessohnes‹ im Gegensatz zu U. Luz spezifisch christologisch fasst. Karl-Wilhelm NIEBUHR (275¬296) vergleicht die Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,3-12) mit Seligpreisungen im Jakobusbrief und wertet die Texte – unter der hermeneutischen Perspektive einer kanonischen Lektüre des Neuen Testaments – theologisch im Hinblick auf das Menschenbild Jesu aus. Takaaki HARAGICHI (297-306) sammelt Stellen bei den Apostolischen Vätern, an denen Makarismen verwendet werden. Kiyoshi MINESHIGE (307-318) stellt die Rezeption der Wendung ›die Armen im Geist‹ (Mt 5,3) bei drei japanischen Theologen des 20. Jh.s vor und bietet damit einen interessanten Einblick in die Rezeption der Bibel in Japan. Urs VON ARX (319-334) untersucht die klassische Primatsstelle Mt 16,17-19 und ihre Rezeption in der Alten Kirche vor dem Horizont neuerer ökumenischer Diskurse. Dale C. ALLISON, Jr. (335-354) beschäftigt sich mit der eigentümlichen Aussage, dass die bei Jesu Tod auferweckten Heiligen erst nach seiner Auferstehung ihre Gräber verlassen und vielen erscheinen (27,52f). Er stellt verschiedene Lösungsvorschläge aus der Geschichte der Matthäusauslegung vor, was die Heiligen in der Zwischenzeit getan haben könnten, erweist dann aber aufgrund sprachlicher Beobachtungen die Wendung ›nach der Auferstehung Jesu‹ als später hinzugesetzte Glosse, die auf dem Hintergrund des immer beliebter werdenden Mythos von der Höllenfahrt Christi eingeschoben wurde. Die in der Todesstunde Erweckten wurden durch die Einfügung mit den aus der Unterwelt Herausgerissenen identifiziert. Schließlich nimmt Peter LAMPE (355-366) die Diskussion um das sogenannte Jesusgrab aus Talpiyot auf, die durch einen Dokumentarfilm des Oskarpreisträgers James Cameron im Jahr 2007 angeheizt wurde, überprüft die Argumente, verwirft sie der Reihe nach und setzt damit hoffentlich einen Schlusspunkt unter diese medienwirksam inszenierte, aber unseriöse Debatte.
Die Festschrift trägt den Titel ›Neutestamentliche Exegese im Dialog‹ und sie legt in beeindruckender Weise Zeugnis ab von den vielfältigen Diskussionszusammenhängen, in die Ulrich Luz verwickelt war und ist. Beigefügt ist der Festschrift ein eindrucksvolles Publikationsverzeichnis des Geehrten, das 44 Jahre akademische Arbeit dokumentiert. Auch die zahlreichen Übersetzungen seiner Arbeit belegen, in welch globalen Dialogen Ulrich Luz neutestamentliche Wissenschaft betreibt. Angesichts dieser universal ausgerichteten Wissenschaft überrascht es ein wenig, dass nur ein einziger katholischer und kein jüdischer Autor mit einem Beitrag in der Festschrift vertreten ist. Hilfreich wäre es gewesen, der Festschrift Kurzvorstellungen der z.T. im deutschsprachigen Raum unbekannten Verfasser beizufügen. Auf eine formale Angleichung der Aufsätze, z.B. bei der Form der Literaturangaben, wurde verzichtet. Bei einigen Aufsätzen wäre ein weiterer Korrekturdurchgang nützlich gewesen. Fazit: Für Leserinnen und Leser, die an Fragen biblischer Hermeneutik und speziell am Matthäusevangelium interessiert sind, ist die Festschrift für Ulrich Luz ein lohnendes Buch. Die relativ kurz gehaltenen, überwiegend lesenswerten Beiträge garantieren ein kurzweiliges, abwechslungsreiches und äußerst anregendes Lesevergnügen. In der Matthäusexegese wird man einige Abhandlungen nicht mehr ignorieren können. Die Internationalität, die dem Buch zugrunde liegt, eröffnet neue Horizonte und zeugt von der Bedeutung der Bibel auch im interkulturellen Dialog. Solche Dialoge bereichern.
Olaf Rölver
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 5/2009