Elisabeth Moltmann-Wendel
Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf
Texte zur Lebenskunst
Stuttgart: Radius Verlag 2008
157 Seiten, € 16,00
ISBN 978-3-87173-103-7
Als nicht alters- und geschlechtsbedingt versteht die feministische Theologin und Autorin Elisabeth Moltmann-Wendel ihre Botschaft „Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf“; vielmehr ist es eine Botschaft „an alle, dass das Leben sich wandelt und dass jeder Einzelne sich darin selbst neu entdecken kann.“ Somit legt sie ein Buch der Lebenskunst vor,
welche sie als Kunst versteht, „das, was uns eng macht, aufzugeben und neue Räume zu betreten“; es geht darum, Beschwerendes – und oft genug sind die „Dinge der Jugend“ beschwerend, unnötig oder gar zwanghaft – abzulegen und sich in Neuland zu wagen, Gott im Alltag und in immer neuen Bildern und Geschichten zu sehen. Der Mensch ist auf Ganzheit und Unversehrtheit hin angelegt – diese Überzeugung zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Im Blick auf menschliche Lebens- und Glaubensgeschichten stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie mit Brüchen, mit dem Auseinanderbrechen der eigenen Existenz umgegangen werden kann. Denn ist das Geheimnis, die Heiligkeit unserer einmaligen, unverwechselbaren Person verletzt, dann gibt es keine einfachen „Lösungen“ und Antworten. Aber es kann, so die Autorin, Spuren zurück zum Leben geben – und zwar dann, wenn das Leben in all seiner Vielfältigkeit erlebt, in allen Dimensionen erfahren und gestaltet wird, z.B. im Austausch mit anderen, im (Wieder-)Entdecken der Sinne, die das in der Trauer Erstickte aufzuwecken vermögen oder in der Heilung durch Freundschaft.
Neben dem Umgang mit einschneidenden Lebenserfahrungen widmet sich Moltmann-Wendel dem „Glück“, der „Freundschaft“, dem „Sich-Wohlfühlen“ und der „Schönheit“, sie zeigt deren existenzielle Bedeutung für das menschliche Ganz- und Heilsein auf und stellt diese Begriffe in einen theologisch¬spirituellen Horizont (vgl. Schöpfungsspiritualität, Leibtheologie, Jesu heilendes Handeln). Oftmals geht es hier darum, den Leib wieder zu erleben, ihn in das Zusammenspiel von Seele und Geist mit einzubeziehen, ihn anzunehmen. Auch demUnerwarteten, Überraschenden, Unvorhergesehenen im menschlichen Leben, der göttlichen Gnade gibt die Autorin in ihrem Text Raum und fordert damit die LeserInnen auf, es ihr gleichzutun und dem unerwarteten Guten im Leben wieder nachzuspüren. Aber auch Themen wie Einsamkeit und Angst, Langsamkeit und Hilfsbedürftigkeit kommen bei Moltmann-Wendel zur Sprache; ebenso wie die schöpferische Komponente der Hausarbeit und Auferstehungserfahrungen im alltäglichen Hier und Jetzt. Jenseits von oft so moralinsaurer Alterspädagogik und gut gemeinten Ratschlägen, jenseits von „müssen“ und „sollen“, jenseits von Appellen zum Verzicht im Alter bringt die Autorin die – immer theologisch gut fundierte – Botschaft „Sei gut zu dir!“ zum Ausdruck und spricht von ihrer Grundüberzeugung „Es ist gut zu leben!“ Indem Menschen im Alter(n) die Tüchtigkeiten und Wichtigkeiten der Jugend aufgeben, kann sich für sie die Möglichkeit eröffnen, Erde und Himmel neu zu begegnen. Nie jedoch werden die Ambivalenzen des Lebens und Alter(n)s vorschnell und einseitig aufgelöst; die „Dinge der Jugend“ aufzugeben heißt auch, „den Schmerz zulassen, sich oft leer und unbehaust zu fühlen, ohne schon das Befreiende und die neue Leichtigkeit des Seins zu spüren.“
Moltmann-Wendel lässt sich in Hinblick auf diesen Schmerz nicht vorschnell vertrösten – nicht von Mitmenschen und deren oft zu raschen Antworten, nicht von den falschen Tröstungen der Religion – und stellt sich dem Leben in all seinen Höhen und Tiefen; mehr noch, sie sieht gerade in dieser Vielfältigkeit des Lebens seinen Reichtum. Mit ihren Überlegungen bringt sie neue – auch den oft so vernachlässigten Gender-Aspekt reflektierende – Ansätze und Impulse in die spirituelle Alternsliteratur ein: u.a. den Verweis auf die „Natalität“ (H. Arendt) des Menschen anstelle der dominanten Betonung seiner Sterblichkeit; den spirituellen Wert von Wohlsein, Glück und vom gerechten Leben; die Wichtigkeit der Annahme der eigenen Körperlichkeit und ein lebensdienliches Verständnis von Schönheit (Schönheit ist das, was Leben ist, das Paradoxe des Daseins, das Menschen zur Gestaltung herausfordert). Reiche Lebenserfahrung und -weisheit, hohe theologische Kompetenz und Kenntnis sowie lebenserprobte und -dienliche Spiritualität wurden von Elisabeth Moltmann-Wendel in diesem Buch kunstvoll miteinander verwoben, entstanden ist ein Werk der „ars vivendi“ geprägt von einer tiefen Lust und Neugier am Leben: „Was werde ich heute wahrnehmen, was ich nie zuvor sah?“
Renate Wieser
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 9/2009