Christoph Markschies
Das antike Christentum
Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen (Beck’sche Reihe 1692)
München: Beck 2006
270 Seiten, € 12,80
ISBN 978-3-406-54108-7
Die Exilszeit gehört zu den spannendsten Epochen der biblischen Geschichte. Diese Tatsache steht im diametralen Gegensatz zu einem allgemeinen Vorurteil, es handle sich um eine „dunkle“ Epoche und man könne kaum etwas darüber wissen. Rainer Albertz zeigt in seinem monumentalen Werk, dass diese Zeit nicht so „dunkel“ ist, wie man oft meint.
Die tiefste Krise der Geschichte Israels brachte nämlich eine blühende Literaturproduktion in Gang. So wurden nicht nur neue Prophetenbücher geschrieben und alte neu redigiert, sondern angesichts des drohenden Abbruchs der Geschichte wurden erstmals auch größere Erzähl- und Geschichtswerke verfasst. Das Bild von der „dunklen“ Exilszeit rührt ja vor allem daher, dass die Bibel selbst über diese Zeit nur ganz sporadisch berichtet. In der biblischen Geschichtsschreibung stellt sie geradezu eine „gähnende Lücke“ dar (7). Im ersten Teil seines Buches zeigt Vf. allerdings, wie diese Lücke in der späteren Erzählüberlieferung langsam aufgefüllt wurde und so schließlich in der apokalyptischen Geschichtskonzeption sogar ihren zentralen Ort fand (13-45). Im zweiten Teil des Buches versucht Vf. dann, eine „Geschichte der Exilsepoche“ zu rekonstruieren. Er nimmt dabei nicht nur Palästina und Babylonien in den Blick, sondern z. B. auch die ägyptische Diaspora. Man merkt, dass sich in den vergangenen Jahren einiges getan hat in der Zusammenarbeit von Altorientalisten, Ägyptologen, Althistorikern, Altphilologen und Exegeten. Das „Dunkel“ lichtet sich, auch wenn immer noch vieles Spekulation bleiben muss (46-116). Das Hauptgewicht des Buches aber liegt auf dem dritten Teil, wo die „Literatur der Exilszeit“ untersucht wird. Vf. schätzt, dass gut die Hälfte des Textbestandes der Hebräischen Bibel während der Exilszeit verfasst oder zumindest (um)geformt worden ist. Wie man sich diese Textbereiche aber genau vorstellen muss und vor allem, wie sie genau zu datieren seien, gehört sicher zu den momentan umstrittensten Fragen in der Bibelwissenschaft. Vf. geht deshalb sehr eingehend auf die Forschungsgeschichte und vor allem auch auf die neueren Hypothesen ein. Wer diesen dritten Teil des Buches aufmerksam studiert, dürfte sich auf dem neuesten Stand der exegetischen Diskussion befinden (117-323).
Der Schlussteil des Buches benennt den „theologischen Ertrag“. Vf. konzentriert sich in diesem sehr kurzen Abschnitt auf Fragen, die er auch für heutige Leserinnen und Leser Bedeutung haben könnten: Aufarbeitung von Geschichte, Geschichtsdeutung, Durchkreuzung imperialer Theologie, Herrlichkeit Gottes und Gewaltenteilung. Vf. lädt ausdrücklich zu Rückmeldungen ein und sucht das Gespräch (324-332). Ein Abkürzungsverzeichnis und mehrere Register schließen das Buch ab. Natürlich ist es nicht möglich, im engen Rahmen einer Besprechung auf die Vielzahl von interessanten Beobachtungen und aufgeworfenen Fragen einzugehen. Das im Folgenden Gesagte ist deshalb natürlich subjektiv und von den Interessen des Rezensenten geleitet: Geradezu spannend fand ich den verschiedenen Konzeptionen von Geschichtsdeutung in der Hebräischen Bibel nachzugehen, die wirklich von einer Deutung der Krise als Chance für einen Neuanfang (Jeremia) bis hin zu einer absolut negativen Sicht (Königsbücher) reichen. Die Sammlung der Danielerzählungen kann dann wieder in frühhellenistischer Zeit aus einem ganz optimistischen Blickwinkel die Diaspora als große Chance für die Weltmission deuten (32). Eine historische Rekonstruktion der Exilszeit steht neben der Lückenhaftigkeit der biblischen Geschichtsüberlieferung selbst vor dem zusätzlichen Problem, dass auch ägyptische und babylonische Quellen aus dieser Zeit aus Großmachtperspektive verfasst sind und den „Rest Israels“ natürlich kaum wahrnahmen. Vf. schätzt, dass Juda mit den beiden Exilierungen etwa die Hälfte seiner Bevölkerung verlor (80). Ein Neubeginn mit der persischen Herrschaft war auch deshalb schwierig, weil national¬religiöse Kreise an einem Wiedererstehen des Königtums arbeiteten, was die Besatzungsmacht so nicht dulden konnte (109). Die sozialgeschichtlichen Veränderungen unter persischer Oberherrschaft, die nur eine begrenzte judäische Selbstverwaltung duldete, hatten auch religionsgeschichtliche Auswirkungen: Die deuterojesajanische Gruppe entdeckte den Monotheismus, die in ihrer Identität bedrohten Exulanten schufen „religiöse und rituelle Sicherungen“ (Sabbat, Beschneidung, Speisegebote) und der Abbruch der festen institutionellen Traditionsbahnen (wie Tempeldienst und Wallfahrten) machten die Familien zu einem wesentlichen Träger der israelitischen Religion (115). In der Exilszeit entstand eine Fülle literarischer Gattungen (Klagelieder, Heilsworte, Völkersprüche ...), die zwar an der vorexilischen Literatur anknüpften, aber nun ihr ganz eigenes Profil erhielten. Neben solchen kleineren Sammlungen entstanden auch größere Literaturwerke, von denen das deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG) das bekannteste sein dürfte. Seit Martin Noth wurde diese These allerdings mehrfach modifiziert. So geht Vf. zwar immer noch von einer weitgehenden Einheitlichkeit des DtrGs aus, konstatiert aber ein sehr hohes Interesse an der davidischen Monarchie und am Tempel und schließt daraus, dass als Autoren noch am ehesten Nachfahren der „national-religiösen Fraktion“ in Frage kommen (214). Aus der Vermutung, dass es gerade diese Kreise waren, die von den Babyloniern deportiert wurden, schließt Vf., dass das DtrG seinen Entstehungsort wohl in Babylonien gehabt hat und zwar wahrscheinlich erst nach der Befreiung Jojachins aus der Untersuchungshaft im Jahr 562 v. Chr. (216/217).
Am spannendsten für mich als in der Bibelpastoral Tätigen jedoch erwies sich – trotz seiner Kürze – der Schlussteil des Buches mit den theologischen Erträgen: „Es ist von bleibender Bedeutung, dass das Israel der Exilszeit seiner gescheiterten Geschichte nicht fortgelaufen ist, sondern umgekehrt die politische Katastrophe zum Anlass nahm, seine Geschichte theologisch aufzuarbeiten“ (325). Vf. sieht dies als „Lehrstück“, dass man aus der Geschichte etwas lernen könne. Und er schreibt dies bei aller Skepsis vor allem den christlichen Kirchen mit ihrer Schuld gegenüber den Juden ins Stammbuch. Doch: „Da auch im alten Israel der Prozess der Schuldbearbeitung drei Generationen dauerte, möchte ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgeben“ (326). Ebenso bemerkenswert sind die Ausführungen Vf.s zur Frage einer theologischen Geschichtsdeutung, die er vor allem in Umbruchssituationen aus Gründen der Eindeutigkeit für wichtig hält, um zu den richtigen politischen Entscheidungen überhaupt erst befähigt zu werden (329). Vf. weist auch darauf hin, dass es immer wieder „Rückfälle“ in alte „imperiale Theologie“ gegeben habe, die doch bereits in der Exilszeit durch den „Gottesknecht“ durchkreuzt worden sei. Gerade den Christen stünde es gut an, im Gefolge des Gottesknechtes Israel mitzuhelfen, „dass die internationalen Konflikte durch uneigennütziges und faires Recht beigelegt werden (Jes 42,1-4; vgl. 2,2-5)“ (330). Und wenn er dann auf die „Gewaltenteilung“ von Thron und Altar zu sprechen kommt, die in utopischen Entwürfen der Exilszeit bereits aufleuchtet, dann fragt sich Vf., „wie es unter christlicher Ägide wieder zu so vielfältigen Verquickungen von Thron und Altar bis in die jüngste Vergangenheit hinein kommen konnte“ (332). Insgesamt liegt mit dem vorliegenden Band der „Biblischen Enzyklopädie“ – trotz mancher Hypothesenfreudigkeit, die den Betrieb momentaner bibelwissenschaftlicher Forschung spiegelt – ein äußerst informatives Kompendium über die Exilszeit vor, zu dem es nicht nur im deutschsprachigen Raum nichts Vergleichbares gibt.
Juan Peter Miranda
Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 12/2009