Klaus Mertes
Verantwortung lernen
Schule im Geist der Exerzitien (Ignatianische Impulse 7)
Würzburg: Echter Verlag 2004
80 Seiten
ISBN 3-429-02537-0
Ein grundsätzlicher Beitrag zum Thema Schule, in welchem der aktuelle schulpolitische Leitbegriff „Bildungsstandard“ nicht erwähnt wird, behauptet implizit, dass es durchaus Wichtigeres zu bedenken gibt. In der Tat stellt Klaus Mertes das lernende Subjekt – und nicht dessen evaluierbare Lernergebnisse – ins Zentrum seiner Überlegungen.
Dies geschieht aus der besonderen Perspektive der „Geistliche(n) Übungen“ (GÜ) des Ignatius von Loyola. Das, was der Exerzitienmeister Ignatius für die Beziehung von Exerzitiengeber und Exerzitant darlegt, überträgt der Autor auf das Verhältnis des Lehrers zu seinen Schülern. So findet er das Erziehungsziel der Schule in einer prominenten Formulierung der GÜ grundgelegt: „... indem wir allein wünschen und wählen, was uns mehr [magis] zu dem Ziel hinführt, zu dem wir geschaffen sind“ (Nr. 23). In der intensiven Auseinandersetzung mit dem angebotenen Lernstoff soll die Schule jede Schülerin und jeden Schüler darauf vorbereiten, in freier und reifer Abwägung sein je eigenes mehr herauszufinden. Auch wenn dieses mehr nicht moralisch verengt werden darf, zielt die ignatianische Pädagogik darauf, „den jeweils größeren eigenen Beitrag für das Allgemeinwohl herauszufinden und zu realisieren“ (59); sie enthält, so Mertes, eine „inhaltliche Option für die Armen“ (61).
Die für eine „Schule im Geist der Exerzitien“ fundamentale Lehrer-Schüler-Beziehung beschreibt der Autor in vier Hinsichten (13-24): Der Lehrende soll seinen Schülern mit „Zurückhaltung“ begegnen, so dass sie sich entfalten können. In methodischer Hinsicht ergibt sich daraus hinsichtlich des zu lernenden Stoffes der Grundsatz der „Knappheit“. Denn weder zu eng gefasste Lernziele noch zu große Stoffmengen führen den Schüler zum dem, worauf die ignatianische Pädagogik abzielt: Die „Reflexion“, in welcher sich der Lernende in ein innerliches Verhältnis zum Unterrichtsgegenstand bringt, diesen beurteilt und daraus handlungsrelevante Konsequenzen ableitet. Das Prinzip der „Übung“ gilt nicht nur für den Unterrichtsstoff, sondern auch für das soziale Miteinander.
Dafür entfaltet Mertes in Anlehnung an die GÜ (Nr. 22) vier Konfliktregeln (25-33): Vom Unterrichtenden wird ein grundlegendes „Wohlwollen“ erwartet, mit dem er im Konflikt auf seinen Schüler zugeht. Scheitert der Versuch, durch klärende Rückfragen zu einer „Verständnissicherung“ zu gelangen, kann eine „Verbesserung“ des Verhältnisses oftmals erreicht werden, wenn der Lehrer Grenzen klar markiert und bei Übertretung Konsequenzen ankündigt. Werden gesetzte „Grenzen“ dennoch verletzt, droht im härtesten Fall der Schulverweis. Dabei geht es, wie im Kapitel über „Schuld und Vergebung in der Schule“ (64-70) ausgeführt wird, nicht um Strafe, vielmehr soll der Schüler zur Erkenntnis des eigenen schuldhaften Handelns gelangen. Deshalb sollte in der Schule ein „durch Schweigen geschützter Vertrauensraum“ (66) bestehen, in welchem ein Schüler Fehler eingestehen kann; wenn dies geschieht, kann ihm die verdiente Strafe erlassen werden. Darin sieht der Autor „das Kernstück einer unterscheidend christlichen Pädagogik“ (69).
Zu dem, was es in einer durch Ignatius inspirierten Schule einzuüben gilt, gehört selbstverständlich der Gottesdienst; als erfahrender Schulmeister gibt Mertes einige konkrete Hinweise (40-42). In der Meditation, die im Unterschied zum Gottesdienst ja Sache des Einzelnen ist, sieht er für Jugendliche der Mittelstufe die Chance, neue Erfahrungen mit Stille zu machen (42f).
Offen spricht der Autor ein grundsätzliches Problem religiös geprägter Schulen an, nämlich die Gefahr einer Funktionalisierung des unverfügbaren Gottes für pädagogische Zwecke, die, von Schülern durchschaut, einer ungewollten Abwendung von Gott Vorschub leistet. Deshalb rät er, dass „gerade im religiösen Bereich die Grundhaltung seitens der Schule die Absichtslosigkeit sein“ müsse, schließlich ist gemäß der GÜ der „Zweck, dem Pädagogik zu dienen hat, ... Gott und die Beziehung der Schüler und Schülerinnen zu Gott“ (37).
Im Unterschied zur praktizierten Religion, dem primären Diskurs, bezeichnet Mertes den Religionsunterricht zu Recht als sekundären Diskurs, der nicht dem Selbstmissverständnis unterliegen dürfe, „zu Glauben und Frömmigkeit führen“ (39) zu können. Hat der Autor hier nur ältere Schüler im Blick? Denn gerade Grundschülern, die trotz fehlender religiöser Sozialisation den Religionsunterricht besuchen, bliebe die wesentliche Seite unseres Glaubens unbekannt, wenn das Exerzitium, wie etwa Singen oder Gebet, ausgespart bliebe und nur über Religion gesprochen würde.
Mertes’ anregendes Büchlein, das ganz nebenbei auf die GÜ neugierig macht, belegt, dass ein Nachdenken über Schule jenseits von schulpädagogischen Moden notwendig bleibt.
Thomas Menges
Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 35 (2006), Heft 3, S. 136f.