Harry Noormann
Kirchengeschichte
(Theologie kompakt ctb 95)
Stuttgart: Calwer Verlag 2006
174 Seiten
ISBN 3-7668-3976-4
Der Hannoveraner Hochschullehrer für Evangelische Theologie und Religionspädagogik vermittelt kirchengeschichtliches Grundwissen, ohne notwendige Fachliteratur und Quellenarbeit ersetzen zu wollen. Die grundlegenden Literaturhinweise (165-171) weisen auf das Herkommen und den konfessionellen Standort des Vf. hin.
Die Einleitung (9-14) begründet mir plausibel erinnerndes Lernen im RU. Für H.N. und seine Leserschaft hat gegenwärtige Geschichte Sinn, wenn sie in die Zukunft weist. So leistet religiöses Lernen in der Schule einen Beitrag für die Gedächtniskultur. RU hat – heute unbestritten – auch die Sichtweise des Geschehens ‚von unten’, aus der Sicht der Angeführten und Verlierer, der geopferten Verlorenen anzubieten. Vf. verdeutlicht seinen religionspädagogischen Ansatz im 8. Kapitel (148-159), das die exemplarische Lebensgeschichte der guatemaltekischen Nobelpreisträgerin Rigoberta Menschú thematisiert. Ihr Leben steht repräsentativ für Christinnen und Christen in den Ländern des Südens, für die Masse der indigenen Armen und Ausgeschlossenen, für in ihrer Existenz Entwürdigte. Rigoberta Menschú kann ihr Leben ‚da unten’ nur durch die Kraft ihres Glaubens – geprägt durch sog. Naturreligion und christlich-katholische Glaubensinhalte – gestalten. Die Auseinandersetzung mit der Biographie der Menschenrechtlerin öffnet Heranwachsenden ein historisches Fenster „zu einer 500-jährigen Geschichte des Christentums“ (152). Die angebotene didaktisch-methodische Skizze kann frei und selbstständig arbeitenden Schülern/-innen eine neue andersartige, bessere Wirklichkeit konstruieren. N. belegt, dass Biographien durchaus (wieder) Bedeutung im geschichtlichen Lernprozess haben. Der vorliegende Band bietet aus der „monumentalen Stofffülle der Kirchengeschichte“ (8) acht Kapitel an. Auf welchen Wegen fand H.N. zu diesen „Haltestationen“ (8), die durch Doppelüberschriften markant gekennzeichnet werden? Es wäre für mich interessant gewesen, welcher Kirchen-Begriff bzw. welche –Metapher der Darstellung des durchaus examensrelevanten Grundwissens zu Grunde gelegt wurde. Vf. stellt die Geschichte der „Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft Kirche“ (11) auf Grund seiner biographisch verarbeiteten Erinnerung dar. Ein Christ deutscher Sprache und geweiteter europäischer Optik der Geschehnisse, der in der evangelischen Abteilung des Gottesvolkes groß wurde, wählte aus, beschrieb und deutete Teilgeschichten. Dies macht die Lektüre für katholische Religionslehrer/-innen anregend – nicht nur in 4 Ursprungsgeist und Weltherrschaft – Reformation und Europäisierung der Welt (1492-1555) (67-89) oder 5 Weltveränderung durch Menschenverwandlung – Pietismus und Aufklärung (1675-1760) (90-104) oder 6 Glaube und Persönlichkeit – Soziale Frage und Weltmission im 19. Jahrhundert (105-123). Die Schüler und Schülerinnen werden leicht Veränderungen bei heutigen Antwortversuchen auf die Soziale Frage herausarbeiten und selbst engagiert handelnd antworten können. Wodurch kann Gottes Volk heute eine Kontrastgesellschaft bilden? Für H. N. ist in Kap. 1 Ursprung und Profil – von messianischen Gemeinden zu einer neuen Weltreligionen (30-476) (15-36) die delphische Gallio-Inschrift der absolute Fixpunkt, „von dem aus eine Chronologie“ (15) entworfen werden kann. Von dieser Quelle ausgehend, kommt man zu einer Pauluschronologie und zu einer Chronologie der jungen christlichen Gemeinde(n). Vf. baut geschichtliche ‚Bögen’. Er bindet geschickt Ereignisse zusammen. Die Gefahren, die im Mailänder Edikt (313) und im Toleranzedikt von 380 liegen, verdienten m. E. eine zugespitztere Akzentuierung. Diese Weichenstellungen weisen in die Zukunft. Sie verdienen Fragezeichen; abschließende Punkte sind mir zu angepasst. Nicht nur aus aktuellem Anlass weist H.N. in 2 Domianz und Dialog – das christliche Europa und die Weltmacht Islam (498/1492) (37-51) auf die Bedeutung und Leistung des Islam hin, die das Selbstverständnis heutiger Leser/-innen mitbestimmen. In 3 Christentum und Macht – Ketzer und Rebellen unter einem imperialen Papsttum (11.-13. Jh.) (52-66) empfehle ich die Problemanzeige Armutsbewegungen im Hochmittelalter (60-66). Hier wird die bekannte ‚katholische Palette’ der Bettel- und Reformorden durch Nachfolgeversuche evangelischer Christen erweitert. Vornehm-sachliche Kritik gegenüber kirchlichen Institutionen und Menschen im 3. Reich äußert Vf. in 7 Anpassung und Widerstand – Kirche und Christen unter dem Hakenkreuz (1933-1945) (124-147). Katholische Leser und Leserinnen werden von einem evangelischen Nachgeborenen auf das spannende „Sowohl-als auch“ – sowohl Kooperationen mit dem die Würde von Menschen mit Füßen tretenden Regime als auch widerständiges Verhalten evangelischer Christen und Christinnen gegenüber der Nazi-Barbarei – hingewiesen. Doch ohne Schwächen und Scheitern ist m.E. eine umkehrbereite, mit der Gnade eines Null-Punktes arbeitende Weg-Kirche nicht ganz allein in der endlosen Welt.
Nicht ganz einsichtig bleibt mir, warum die vom Vf. im Fließtext gebrauchten Fachtermini/ Fremdwörter (?) nicht in eine erzählend erläuternde Form gegossen wurden, sondern in einem Glossar (172-174) lexikonartig erläutert werden. Unterschätzt H.N. passim die Allgemeinbildung seiner Leser und Leserinnen: z. B. „Diözese; diözesan“. „Enzyklika“ (172) oder „Retrospektiv“ (174)?
Ich las eine prägnante, katholische Sichtweisen erweiternde Darstellung der Kirchengeschichte evangelischer Gestalt
Bernhard Jendorff
Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 35 (2006), Heft 3, S. 134f.