Menschenwürde in der Diskussion

Buchvorstellung - 07.07.2009

Matthias Kettner (Hg.)
Biomedizin und Menschenwürde
(es 2268)

Frankfurt: Suhrkamp Verlag 2004
344 Seiten
ISBN 3-518-12268-1

Wer über Embryonenforschung, Stammzelltherapie oder Präimplantationsdiagnostik diskutiert, wird unweigerlich irgendwann mit dem Argument der Menschenwürde konfrontiert. Bei näherem Hinsehen erweist sich freilich die Menschenwürde als wenig geeignet, normative Forderungen zu begründen. Wem genau Menschenwürde zukommt und warum, ist nicht selbstverständlich.

Ist die Menschenwürde der befruchteten Eizelle die gleiche wie die eines Erwachsenen und die wiederum identisch mit der eines komatösen Sterbenden? Oder gibt es Stufen der Menschenwürde, wie auch Menschen sich vor und nach der Geburt in unterschiedlichen Phasen entwickeln? Und wieso findet sich der unwidersprochene Menschenwürdebegriff nicht in juristischen Normen wieder wie dem § 218? Ohne eine genaue Bestimmung des Menschenwürdebegriffs lässt sich also weder politisch diskutieren noch Ethik treiben. Matthias Kettner, Professor für Philosophie an der Privaten Universität Witten/Herdecke, hat daher ausgehend von einer Tagung etliche der großen Namen aus der Bioethik-Bundesliga zusammengebracht, um als Philosophen, Mediziner und Juristen den Begriff Menschenwürde genauer zu bestimmen und seine Auswirkungen auf brisante Bereiche der modernen Biomedizin zu untersuchen.

Wolfgang Wodarg, Arzt und MdB, untersucht zunächst rechtsphilosophisch den Begriff der Menschenwürde und stellt das Prinzip der Menschenwürde als unbedingt begründete Regel dar, die allen anderen Rechtsnormen erst Geltung verleiht. Von Kant her liegt die Menschenwürde in der ideellen Vernunftfähigkeit begründet, so dass Embryonen, Erwachsenen und Sterbenden gleichermaßen Würde zukommt, unabhängig von der konkreten kognitiven Leistungsfähigkeit. Knapp zweihundert Seiten später demontiert der Philosoph Franz Josef Wetz dann diese Begründung der Menschenwürde und zugleich noch die üblichen religiösen und radikal-säkularen Begründungen. Seiner Ansicht nach gleicht der Menschenwürdebegriff eher einer benebelnden Droge als einem Wegweiser durch biomedizinische Untiefen. Es will bloß niemand dem Artikel 1 des Grundgesetzes öffentlich widersprechen.

Das Werk der Demontage setzt der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Ulfrid Neumann genüsslich fort, wenn er zeigt, wie ein inflationär verwendetes Menschenwürdeargument zu Selbstwidersprüchen führt. Am Beispiel der somatischen Gentherapie macht er deutlich, dass weder beim Therapiewilligen noch bei seinen (noch nicht existenten) Nachkommen die Würde verletzt werden kann.

Alle Autoren wenden das Gesagte auf konkrete Einzelthemen an. So untersucht z.B. die Tübinger Wissenschaftsethikerin Sigrid Graumann das Argument, Embryonen seien in der Petrischale stärker geschützt als im Mutterleib und zeigt auf, dass die Situationen keineswegs vergleichbar sind, weil zwar ein relevanter Interessenkonflikt zwischen dem Ungeborenen und der Schwangeren bestehen kann, der aber in der Petrischale nicht denkbar ist. Daher lassen sich vom Schutz des Ungeborenen in der Mutter nicht einfachhin ethische Schlüsse auf den Umgang mit Embryonen aus der künstlichen Befruchtung ziehen.

Mit den fragwürdigen Wunschkindern aus dem Labor befasst sich auch Andreas Kuhlmann vom Frankfurter Institut für Sozialforschung. Unter Anwendung des kantischen Instrumentalisierungsverbots zeigt er in verblüffender Weise auf, wie sich die Situation ändert, wenn im Gedankenexperiment aus den modebewussten Möchtegerneltern, die sich ein spezielles Kind wünschen, fortpflanzungswillige Eltern schwerbehinderter Kinder werden. Was beim einen verwerflich ist, scheint beim anderen geradezu als Ausdruck von Verantwortung zu gelten.

Mitten in die theoretischen Erwägungen hinein bricht sich die Empirie Bahn. Die Essener Fortpflanzungsmediziner Thomas Katzorke und Franz Kolodziej fragen nach der Haltung ihrer Kollegen zu Fragen von IVF, PID, Embryonenforschung, Klonen, Gentherapie und verwandten Techniken. Das Fazit ist eindeutig: Die Mehrheit der Reproduktionsmediziner spricht sich für eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes und die Schaffung eines liberaleren Fortpflanzungsmedizingesetzes aus, das eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik und der Embryonenforschung erlaubt, allerdings bei gleichzeitiger strikter Ablehnung von Kommerzialisierung und völliger Freigabe.

Spätestens hier wird deutlich, worin die eminente Bedeutung dieses Buches liegt. Es bringt Ordnung in Diskurse, die zu stark von Wohlmeinen und vorschnellem Gebrauch des Menschenwürdeargumentes geprägt sind und sich dabei unbemerkt von der Realität der Anwender und Empfänger biomedizinischer Verfahren entfernt haben. Damit ist das Werk jedem kirchlichen Lebensschützer sehr zu empfehlen. Der Herausgeber und seine Autoren hinterfragen penibel die Menschenwürde, um sie dort zu retten, wo sie im Diskurs hingehört und gebraucht wird. Doch diese Tatsache macht umgekehrt auch die Schwäche des Sammelbands deutlich. Er hätte in vielen Beiträgen leichter lesbar geschrieben werden können, ohne Abstriche an Wissenschaftlichkeit oder Präzision zu erleiden. Es ist wohl nicht zuletzt der deutschen Neigung zu akademischer Selbstdarstellung zuzuschreiben, dass Ethik und Alltag wenig miteinander zu tun haben

Andreas Bell

Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 35 (2006), Heft 3, S. 132f.