Theoretische Fundierung angewandter Ethik

Buchvorstellung - 05.06.2009

Julian Nida-Rümelin (Hg.)
Angewandte Ethik
Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch

Stuttgart: Verlag Alfred Kröner 2005
933 Seiten
ISBN 3-520-43702-4

Auf den ersten Blick kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man ein gewichtiges Werk – nicht bloß wegen des schieren Umfangs – in Händen hält. In siebzehn umfangreichen Kapiteln scheint das ethische Denken der Gegenwart luzide auf den Begriff gebracht worden zu sein. Auf den zweiten Blick fällt dann auf: Warum kommt die Keimzelle menschlichen Lebens, – die Familie – überhaupt nicht vor.

Dafür aber je zwei Kapitel zu Tierethik und zu ökologischer Ethik und ein Kapitel, das sich vornehmlich mit einer Hälfte der Menschheit – den Frauen (s. Pauer-Studer) – befasst? Andere Schwache der menschlichen Gesellschaft - Kinder und alte Menschen – werden nur als ethische Grenzfälle thematisiert, bei ihrer Zeugung durch Invitrofertilisation (H. Pauer-Studer, B. Schöne-Seifert, B. Irrgang), oder ihrer Beseitigung durch Abtreibung (H. Pauer-Studer, B. Schöne-Seifert) die einen und in der Frage nach dem schönen Tod (Euthanasie, B. Schöne-Seifert u. J. Nida-Rümelin, Wert des Lebens) die anderen.

 

Des Weiteren fällt auf: Es wird eine Ethik nach dem Tode Gottes präsentiert. Letztbegründung wird als „fundamentalistische Idee“ (J. Nida-Rümelin, S. 40) abgetan. D. v. d. Pfordten erspart sich religiöse Naturrechtsbegründungen und nennt nur einen „agnostisch argumentierenden Vertreter“ (J.Finnis) dieser Argumentationsfigur (S. 243). Das verwundert allerdings nicht. Es ist einfach üblich, Ethiken unter der Bedingung etsi Deus non daretur zu entwerfen. Bis in die katholische Moraltheologie fühlt man sich dieser aufklärerischen Kuratel verpflichtet und möchte möglichst metaphysikfrei oder wenigstens reduziert Ethiken entwerfen. Dennoch wird das gesamte bioethische Werk D. Mieths etwa, überhaupt nicht beachtet. Das Zugeständnis von J. Habermas von 2001, dass religiöse Sprache Sinnresourcen berge, die sonst nirgends mehr zu greifen sind, zeigt in vorliegendem Buch keine Wirkung. Die säkulare Argumentationsfigur des etsi Deus non daretur wird dadurch offensichtlich nicht angefochten. Einzig Kardinal Ratzinger hatte in seinem letzten bedeutenden Vortrag als Kardinal am 2.4.2005 den Mut, den säkularen Mainstream herauszufordern und es doch einmal umgekehrt zu machen und zu denken veluti si Deus daretur (als ob es Gott gäbe). Er macht diesen Vorschlag, weil „der bis zum äußersten geführte Versuch, die menschlichen Dinge unter vollständigem Verzicht auf Gott zu formen, ... immer näher an den Abgrund“ (Ratzinger) führt.
Deshalb muss es einem religiös orientierten Rezensenten erlaubt sein, auf dieses durchgängige Prinzip des Buches, Ethik zu begründen etsi Deus non daretur, wenigstens hinzuweisen. Es kann nicht mehr als selbstverständlich hingenommen werden, dass in einer Gesellschaft in der in globalem Ausmaß religiöse Konflikte eine Rolle spielen, Handbücher über Ethik geschrieben werden, die religiöse Bezüge systematisch ausgrenzen.
So ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn J. Nida-Rümelin, die Behauptung J. Thomsons im Beitrag von H. Pauer-Studer als „schönes Beispiel“ bezeichnet, das „zu recht berühmt geworden“ sei (S. 30 u. S. 110), in dem Schwangerschaft als „längerfristiger Gebrauch eines anderen Körpers“ bezeichnet wird und daraus selbstverständlich kein Lebensrecht geschlossen werden kann. Im gleichen Beitrag wird kritiklos wiedergegeben, dass der Fötus ein Teil des Körpers der Frau sei und der Frau daher das alleinige Recht zustehe, über Fortsetzung und Abbruch der Schwangerschaft zu entscheiden.
Aus diesen und den meisten anderen Beiträgen wird dann auch die offensichtlich – libertaristisch genannte – durchgängige Position den Buches offensichtlich. Das Mitglied des deutschen Ethikbeirates B. Schöne-Seifert bringt diese Position denn auch ganz ungeschminkt auf den Begriff: Da die Statusfrage des Embryos strittig sei, wäre es „rechtspolitisch vernünftig, die ethische Frage zu privatisieren“[!] (S. 779f.), d. h. Abtreibung gänzlich unter das Befinden der betroffenen Frau zu stellen. Die Beratungspflicht in der bundesdeutschen Gesetzgebung „konterkariere“ [!] (S. 780) allerdings dieses Elternrecht. Diese Argumentationsfigur ist ein treffliches Beispiel für die libertaristische Grundposition des Buches, auch individualrechtliches Paradigma genannt.
Wer das Prinzip des etsi Deus non daretur akzeptiert, wird ein konsequent argumentierendes Werk in Händen halten, mit e. g. Konsequenzen. Ohne Gott als letzte Fluchtlinie allen ethischen Denkens bleibt eben nur das je eigene Ich als letztes Prinzip, das schließlich immer über ganz ausgefuchste Überlegungen und Abwägungen (vgl. dazu J. Nida-Rümelin Wert des Lebens) gegenüber anderen Ichen oder dem Wir der Gesellschaft letztlich die Oberhand zu behalten sucht.

Helmut Müller

Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 35 (2006), Heft 4, S. 205f.