Hans Joas
Die Entstehung der Werte
(stw 1416)
Frankfurt: Suhrkamp Verlag 9. Auflage 2006
321 Seiten
ISBN 3-518-29016-9
Mit der Studie „Die Entstehung der Werte“ hat sich der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Seither ist sein Name über die soziolgische Disziplin hinaus fester Bestandteil des deutschsprachigen Wertediskurses und das, obwohl, vielleicht aber auch weil Joas ein ausgezeichneter Kenner der amerikanischen Sozialwissenschaften und -philosophie ist.
Für alle, die soziologisch besonders interessiert sind, ist seine gleichermaßen gründliche wie gebildete Kommentierung der thematischen Leitvorstellungen von neun namhaften Sozialdenkern, nämlich Friedrich Nietzsche, William James, Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Scheler, John Dewey, Charles Taylor, Richard Rorty und Jürgen Habermas, ein Muss. Aber auch denjenigen, denen auf dem Hintergrund der jüngsten Milieustudien an mehr Klarheit in der Zuordnung des Wertebegriffs zu den Begriffen „Einstellung“, „Norm“ und „Kultur“ gelegen ist, sei das Buch empfohlen.
Joas beginnt seine Erörterungen, in dem er die politische Landschaft unter bestimmten Perspektiven beleuchtet und liberale Vorstellungen zum Thema Wertewandel und Werteverlust von kommunitären absetzt. Während erstere die Stärkung des Gemeinwohls von der Vernunftentscheidung des freien Individuums aus denken, suchen letztere gemeinschaftsbezogene Werte zu eruieren und zu verteidigen. In einem Überblick kommen zahlreiche Fragen und Meinungen zur Sprache, derer wir uns innerkirchlich auszusetzen haben: Kann es eine Wertgewissheit geben? Sind Werte lehrbar? Wenn lehrbar, dann emotional oder auch kognitiv? Sind Werte Ergebnis eines kontinuierlichen (Selbst-)bildungsprozesses oder können Werte auch in der Erfahrung von Brüchen entstehen?
Um die Frage, wie Werte gewonnen werden, zu beantworten, geht Joas zurück in die Geistesgeschichte von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre. Der überwiegende Teil seines Buches besteht aus einer „forschenden Wiedererinnerung“ (23) vergangener Debatten. Auf dieser anspruchsvollen aber stets spannenden Bildungsreise, die u.a. mit den methodischen Ideen des amerikanischen Pragmatismus vertraut macht, lernen wir den Autor Joas und seine ausgeprägten analytischen Qualitäten kennen. Seine Beurteilungen sind freundlich aber deutlich. Er bestimmt die Grenzen auch derer, die er schätzt und von denen er beeinflusst ist, so besonders John Dewey und Charles Taylor. Gesondert hinzuweisen ist m.E. auf das Kapitel 9 über den Identitätsbegriff und seine postmoderne Herausforderung. Hier werden „heilsame Nötigung[en]“ (243) für die Klärung eines sozialwissenschaftlichen Indentitätskonzepts erörtert und sogar eine Revision vorgenommen: Von Richard Rorty lernt Joas, dass nicht allein die dialogische Dimension von Wichtigkeit ist für die Identitätsbildung, sondern auch die Tatsache der Ausgrenzung zur Identitäts- und Wertebildung beitragen kann – und zwar im negativen wie im positiven Sinne.
Den Abschluss der „Entstehung der Werte“ bildet ein Kapitel mit dem tragenden Titel „Werte und Normen: Das Gute und das Rechte“. Es enthält eine ausführliche Kritik der Theorie der verfahrensorientierten Diskurstheorie von Jürgen Habermas. Dazu werden zum einen Motive der vorabgegangenen methodengeschichtlichen Kapitel rekapituliert, es wird aber zum anderen auch weitere – habermaskritische – Forschungsliteratur eingeführt. Dafür, dass in ihm eine Vielzahl komplexer Gedankenstränge zusammenlaufen, ist es ausgesprochen kompakt geschrieben. Wer sich aber für die Frankfurter Schule interessiert, wird sich der Widerständigkeit dieses letzten Kapitels gerne stellen. Er wird belohnt mit einer Summa, die auch im Jahre 2006 das argumentative Fundament der Wertedebatte grundlegt.
Dewi Maria Suharjanto
Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 35 (2006), Heft 4, S. 202.