Hans Joas
Braucht der Mensch Religion?
Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz (Herder Spektrum 5459)
Freiburg i.Br.: Verlag Herder 2004
190 Seiten
ISBN 3-451-05459-0
Der sozialwissenschaftliche Blick auf die Religion erfolgte lange Zeit durch die Brille der Säkularisierung. Mit dieser Brille betrachteten spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts viele bedeutende Denker – unter ihnen auch die Gründungsväter der Soziologie – das Christentum, nämlich als ein früher wirkmächtiges gesellschaftliches Phänomen, das sich aber mit fortschreitender Modernität von selbst verflüchtigen wird.
Verstärkt wird diese Tendenz, so der Soziologe Peter L. Berger, durch einen weltanschaulichen Pluralismus, der die Selbstverständlichkeit verbindlicher Werte und Glaubensinhalte unterminiert.
Hans Joas, Professor für Soziologie und Sozialphilosophie an den Universitäten Erfurt und Chicago, rät den Kirchen, aus dieser „säkularisierungstheoretisch begründeten Selbsteinschüchterung herauszukommen“(48), indem sie ihren Blick über Europa hinaus weiten: Denn aus globaler Perspektive betrachtet haben sich die Weltreligionen Christentum und Islam durch Missionierung erheblich verbreitet. Das weltweit sicherlich modernste Land, die USA, welches die Säkularisierungstheoretiker stets in Erklärungsnöte stürzte, belegt eindrucksvoll, dass religiöse Vitalität und weltanschaulicher Pluralismus nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern sich befruchten können. Nimmt man diese Tatsache ernst, liegt die von Joas gezogene Konsequenz nahe: Säkularisierung verstanden als ein Absterben der Religion ist kein notwendiger Bestandteil des Prozesses der Modernisierung; im Weltmaßstab gesehen sind deshalb nicht die USA, sondern ist eher Europa – von den Ausnahmen Irland und Polen einmal abgesehen – der zu erklärende Sonderfall.
Mit dem Hinweis „auf europäische Traditionen territorialer kirchlicher Monopole und der Verknüpfung politischer und kirchlicher Interessen“ (82) deutet Joas eine Erklärung an. Die religiöse Situation in Ostdeutschland macht ihn ziemlich ratlos: Der Wegfall staatlicher Repression hat den Kirchen nicht nur keinen Zulauf gebracht; zu konstatieren ist eine „religiöse Erschlaffung“ und eine Abnahme religiöser „Nachfrage, die in dieser Form historisch neu und unerwartet ist“ (42).
Eine kritische Anmerkung zu Max Weber – dieser habe sich „vornehmlich für die Folgen religiöser Glaubenssysteme interessiert, nicht für diese selbst“ und sei deshalb „für viele Fragen der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion ... nur von beschränktem Wert“ (67) – führt zum Kern der Joasschen Sicht auf Religion. Menschen glauben nicht deshalb, weil sie von der Nützlichkeit ihres Glaubens überzeugt sind. Die Grundlage religiösen Glaubens bildet vielmehr eine bestimmte Art von Erfahrung, die der Autor bewusst nicht als religiöse, sondern als Erfahrungen der Selbsttranszendenz bezeichnet. Es handelt sich um Erfahrungen, „in denen eine Person sich selbst übersteigt ... im Sinne eines Hinausgerissenwerdens über die Grenzen des eigenen Selbst, eines Ergriffenwerdens von etwas, das jenseits meiner selbst liegt, einer Lockerung oder Befreiung von der Fixierung auf mich selbst“ (17). Joas ist davon überzeugt, dass grundsätzlich alle Menschen diese sehr emotionale und evidente Erfahrung des „Ergriffenseins“ (ebd.) gemacht haben. Erfahrungen der Selbsttranszendenz können ganz unterschiedliche Gestalten annehmen: Es kann sich um „enthusiasmierende Erfahrungen“ (20) – wie z.B. die Vereinigung mit der Natur, das tiefe sich Verstandenfühlen in einer Begegnung –, aber auch um Kontingenzerfahrungen – wie z.B. die Erschütterung durch Leid und Angst – handeln; der Fall kollektiver Ekstase belegt, dass derartige Erfahrungen auch eine gefährliche, ja böse Form annehmen können.
Für die genannten Erlebnisse sucht der von ihnen tief Betroffene nach Artikulationsmöglichkeiten. Finden kann er sie in dem großen Repertoire tradierter kultureller Deutungsmuster. Personen, die ihre Erlebnisse mit Hilfe religiöser Deutungen zu verstehen suchen, werden ihre Erfahrung als religiös qualifizieren. Andere werden nicht-religiöse Erklärungen heranziehen; zu Recht verweist Joas auf „einen ‚Atheismus der Tiefe’, eine Nicht-Gläubigkeit, die gerade selbst zu einem Pathos der Liebe zu den Menschen und zur Welt wird“ (28). Erfahrungen der Selbsttranszendenz ist es eigen, stets gedeutete Erfahrungen zu sein.
Mit seinem Gewährsmann William James stellt Joas den Begriff der (je individuellen) religiösen Erfahrung in den Mittelpunkt seiner religionssoziologischen Überlegungen, teilt aber nicht dessen antiinstitutionelle Überzeugungen. So gehören zum tradierten Schatz der Weltreligionen religiöse Exerzitien, die zur Erfahrung der Selbsttranszendenz anleiten können. Bestimmte, vom Autor als sakramental bezeichnete Erfahrungen der Selbsttranszendenz lassen sich nur im Rahmen vorausgesetzter kirchlicher Deutungen machen wie etwa die Erfahrung der Anwesenheit Jesu Christi in Gestalt von Brot und Wein während der Eucharistie (25).
In der vorliegenden Aufsatzsammlung erprobt Joas den eigenen Ansatz in Auseinandersetzung mit Größen wie etwa Paul Ricoeur oder Charles Taylor. In einem Beitrag nimmt er die von Jürgen Habermas lancierte (und von nicht wenigen Zeitgenossen dankbar aufgegriffene) Rede von der „post-säkularen Gesellschaft“ aufs Korn, bringt doch diese Formulierung trefflich zum Ausdruck, wie falsch bestimmte intellektuelle Kreise, die ganz selbstverständlich die Säkularisierungsthese unterstellten, die Stärke der Religion in der modernen Gesellschaft eingeschätzt haben. Es bleibt zu hoffen, dass Joas „sein geliebtes Spezialgebiet“ (89) weiterhin pflegt und uns mit neuen religionssoziologischen Erkenntnissen bereichert.
Thomas Menges
Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 35 (2006), Heft 4, S.201f.