Gesellschaft und Jugend

Buchvorstellung - 26.04.2009

Gabriele Bingel/ Anja Nordmann/ Richard Münchmeier (Hg.)
Die Gesellschaft und ihre Jugend
Strukturbedingungen jugendlicher Lebenslagen

Opladen: Barbara Budrich 2008
236 Seiten
ISBN 978-3-86649-115-1

Dass sich über die Jugend trefflich streiten lässt, wissen nicht nur Lehrer und Eltern, sondern auch Jugendforscher. Kaum anders ist die Flut immer neuer Untersuchungen zu Haltungen und Orientierungsmustern Jugendlicher zu erklären. Braucht es angesichts dieser Vielzahl von Veröffentlichungen eines weiteren Sammelbandes, der Auskunft geben will über die Befindlichkeiten heutiger Jugendlicher?

Auch die Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes wissen um die Problematik. Sie sehen ihr Vorhaben dennoch gut begründet. Es liegen zwar eine Fülle von Beiträgen vor, die den Einstellungs- und Wertewandel bei Jugendlichen etwa bei religiösen oder politischen Überzeugungen beschreiben. Es mangelt aber nach wie vor an fundierten Analysen darüber, wie diese Veränderungen zu Stande kommen: In welchen Bedingungen des Lebensalltages von Jugendlichen sind diese Wandlungsprozesse begründet? so lautet entsprechend die Leitfrage des Bandes. Die einzelnen Beiträge nehmen in systematischer Weise unterschiedliche für die Lebenslage „Jugend“ relevante Strukturbedingungen in den Blick: Zum einen wird die Integration in, die Teilhabe an und die Inanspruchnahme durch die gesellschaftlichen Teilsysteme Arbeit, Bildung, Jugendhilfe, Medien, Öffentlichkeit und Politik analysiert. Zum anderen rücken die Ordnungskategorien Geschlecht, Generation und Nation in ihrer Bedeutung für heutige Jugendliche in den Vordergrund. Deutlich ist die Perspektive dieser Art von Jugendforschung zu erkennen. Nicht um die bloße Rekonstruktion von individuellen Vorlieben und Einstellungen geht es ihr. Vielmehr will sie wissen, welchen Einfluss diese Strukturbedingungen darauf nehmen, wie Jugendliche die ihnen alltäglich gestellten Belastungen, Herausforderungen und Probleme bewältigen. Auf zwei für die religionspädagogische und jugendpastorale Diskussion relevante Beiträge soll hier eigens hingewiesen werden: Die Hallenser Autorengruppe Helsper/Busse/ Hummrich/Kramer zeichnet im Rückgriff auf empirische Fallstudien nicht nur sehr anschaulich das grundlegende Ambivalenzverhältnis zwischen den Sinnbedürfnissen von Jugendlichen und der Institution Schule als das „Andere“ eben dieser Ansprüche nach. Sie können auch darlegen, dass dieses Ambivalenzverhältnis von den Jugendlichen sehr unterschiedlich gelöst wird. Ob man zum Angepassten wird oder sich auf die Seite der Schulopposition schlägt (um die extremen Pole zu benennen), hänge, so die Autoren, wesentlich davon, wie Autonomiebestrebungen der Jugendlichen, die jeweilige Kultur einer Schule und familiäre Erwartungen miteinander interagieren. Dies bedeutet aber auch, dass die Schule durch ihre Umgangsformen mit den Schülern durchaus über einen Spielraum für die Verschärfung oder die Entspannung des Ambivalenzverhältnisses zwischen ihr als Institution und den Jugendlichen verfügt. Diese Schlussfolgerung scheint gerade für die Diskussion um die Ganztagsschule zentral, geht mit ihr doch eine weitere Expansion des „Schulischen“ in der Lebenswelt von Heranwachsenden einher. Katrin Fauser stellt in ihrem Beitrag über „Jugendliche im Verband“ Ergebnisse einer empirischen Studie über die Arbeit der Evangelischen Jugend in Deutschland vor. Aufschlussreich ist hierbei vor allem eine genauere Analyse von Motivlagen derjenigen, die an den Angeboten des Jugendverbandes aktiv partizipieren. Während es zunächst wenig überrascht, dass „Gemeinschaft“ die zentrale Motivdimension für das jugendliche Nutzungsverhalten des Verbandes darstellt, so ist die Entstehung dieses Motivs hochinteressant. Die Studie zeige nämlich, dass sich das Gemeinschaftsmotiv erstens wesentlich aus den konkreten Aktivitäten und Erfahrungen der Jugendlichen in einer spezifischen verbandlichen Gruppe speist (und nicht ein quasi-natürliches Bedürfnis darstellt) und dabei zweitens eng verwoben ist mit dem Wunsch, sowohl etwas für die eigene Entwicklung zu tun, wie auch mit dem Bedürfnis, etwas Sinnvolles für andere zu tun. Empirisch sei nachweisbar, dass in der Motivstruktur der verbandlich engagierten Jugendlichen eher egoistische und eher altruistische Bedürfnisse keinen Gegensatz bilden. Wer sich auf der Basis aktueller Jugendforschung über die Hintergründe jugendlicher Ausdrucksformen und Lebenslagen informieren möchte, für den stellt dieser Sammelband eine anregende und empfehlenswerte Fundgrube dar.

 


Matthias Proske

Quelle: Religionsunterricht heute. Informationen des Dezernates Schulen und Hochschulen im Bischöflichen Ordinariat Mainz 37 (2009), Heft 1/2, S. 59f.