Prägende Wirkung der Schöpfungsmythen

Buchvorstellung - 19.09.2010

Vera Zingsem

Die Weisheit der Schöpfungsmythen
Wie uralte Geschichten unser Denken prägen

Stuttgart: Kreuz Verlag 2009
217 Seiten
ISBN 978-3-7831-3227-4

Vera Zingsem ist Theologin und Pädagogin, die als ihr Spezialgebiet „Mythenforschung“ bezeichnet. Sie hat Sachbücher und Artikel geschrieben, in denen vor allem die Rolle der Frau in der Bibel und in Mythen und Märchen thematisiert wird. Das bekannteste ist Lilith. Adams erste Frau (Tübingen 1999). Auf dieses Buch greift sie auch in dem zu rezensierenden zurück. Zingsem hat auch literarische Werke verfasst, zuletzt Die Geschichte der Sonne (Stuttgart 2008). Erwähnenswert ist der Kinderroman Einladung nach Jerusalem (Frankfurt 2001), in dem die Autorin ihre mehrjährigen Studienaufenthalte in Israel verarbeitet.

Schöpfungstexte aus aller Welt werden in der Monografie zitiert und kommentiert. Ausgangsthese ist die Annahme: Jedes Volk erschafft sich über seine Schöpfungsgeschichten in gewisser Weise selbst, setzt sich in Bezug zu der Welt, die es bewohnt und auf der es seinen ganz besonderen Platz zum Leben gefunden hat. [9] In neun thematisch gegliederten Kapiteln geht es um die Bibel [17-39], die Liebe [40-63], das Wort [64-73], die Kuh [74-92], Traum und Meditation [93-111], Fürsorglichkeit und Geborgenheit [112-143], das Miteinander [144-172], Tanz und Musik [173-188] und das Kind [189-202]. Drei Fragen ziehen sich als roter Faden durch die Referate:
 

  • Welche Rollen nehmen Frauen in den Schöpfungstexten ein?
  • Wie liberal und tolerant sind die Schöpfungsmodelle gegenüber den Fremden und der Sexualität?
  • Ist der Umgang mit der Umwelt und den Tieren, den die Texte spiegeln, ökologisch vertretbar?

Das Fazit des Buches ist: Während alle anderen erwähnten Schöpfungstexte Frauen vor den Männern Vorrang einräumen, Liebe und Sexualität als schöpferische Kraft angemessen verehren und die Achtung der Mitgeschöpfe anmahnen, beschreibt ausgerechnet die Bibel eine Welt ohne Liebe, Freude und Mitgefühl [35], in der Frauen und Tiere als Sacheigentum [36] des Mannes gelten, um den sich alles dreht, der sogar in der zweiten Schöpfungserzählung (Genesis 2-3) in krasser Verdrehung der biologischen Verhältnisse .. quasi das Menschengeschlecht .. „gebiert“. [37] Welch bescheidene Vorstellung, vergleicht man .. mit den Liebesentwürfen anderer Kulturen, die auch in diesem Buch vorgestellt werden! [36]

Exegetische Fachliteratur habe ich im Verzeichnis am Ende des Buches [215-217] nicht finden können; dass die jahwistische Schöpfungserzählung auch ganz anders gedeutet werden kann, ja, nach dem Übergewicht heutiger exegetischer Forschung muss, verschweigt Zingsem. „Adam“, „Erdling“ heißt ja nicht „Mann“, sondern „Mensch“, vom „Isch“, dem „Mann“, wird erst in Genesis 2,23 geredet, denn erst die Existenz der Frau ermöglicht auch die Existenz des Mannes, und das gilt in beiden Schöpfungstexten.

Die Anliegen der Gleichberechtigung, der Toleranz und der Ökologie sind natürlich nur zu berechtigt; aber sie sind juristisch aus den Menschenrechten abzuleiten, wissenschaftlich zu begründen aus den Bestandsaufnahmen zum Zustand der Natur und mit diesen Argumenten politisch durchzusetzen. Welche Mythen Ägypter über die reichtumspendende Königin der Götter [83] oder Diné über die sich wandelnde Frau [135] erzählen, das sagt erstens wenig darüber aus, wie diese Völker mit ihren Frauen und Mitgeschöpfen tatsächlich umgegangen sind, und es dient zweitens in unseren heutigen ethischen und politischen Debatten nicht als zugkräftiges Argument. Denn wenn wir auch den Überlieferungen der Völker Respekt schulden, Glauben und Gehorsam schulden wir ihnen nicht.

Dr. Karl Vörckel