Wilfried Härle
Spurensuche nach Gott
Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre
Berlin: Walter de Gruyter Verlag 2008
491 Seiten
ISBN 978-3-11-019694-8
Wilfried Härle war Professor für systematische Theologie an den Universitäten Groningen, Marburg und Heidelberg. Das zu rezensierende Buch ist das dritte in einer Reihe von Aufsatzsammlungen, für die Härle bereits veröffentlichte Artikel und Vorträge überarbeitet und um neue Studien ergänzt hat. Das Buch umfasst 25 unabhängig voneinander lesbare Texte, die grob sieben Themenfeldern zugeordnet werden können:
• Christentum
• Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff
• Toleranz
• Reformation
• Tod und Auferstehung Jesu
• Trinitätslehre
• Das Eschaton (die letzten Dinge)
Trotz seiner Themenvielfalt bietet das Buch nicht den Eindruck einer Zweitverwertung von zu unterschiedlichen Anlässen entstandenen Gedanken. Es hat ein Programm, einen festen Anker und eine methodische Innovation. Das Programm: „Das Vertrauen auf“ die „unverfügbare Liebe Gottes, die in Jesus Christus menschliche Gestalt angenommen hat, ist das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht.“ [11] Die evangelische Sicht, die das Buch in einer konkreten Kirche verankert, wird nicht aus der kritischen Distanzierung von anderen christlichen Konfessionen gewonnen, sondern aus der unverzagten Orientierung am theologischen Genie Martin Luthers. Und die methodische Innovation besteht in der Einbeziehung semiotischer Erkenntnisse in die Theologie. Das Buch ist wissenschaftlich erarbeitet mit vielen Belegen. Personen- und Sachverzeichnisse fehlen; aber man findet sich aufgrund der engmaschigen Gliederung trotzdem gut darin zurecht. Religionslehrerinnen und Religionslehrer werden das Buch schätzen, weil sich aus ihm zu vielen Themen Texte herausschneiden lassen, die als Informationsgrundlage oder für Klausuren sehr geeignet sind. Wer sich die Fundgrube, die Härle bietet, aneignen will, muss das Buch zur Hand nehmen. In dieser Rezension möchte ich auf drei willkürlich herausgegriffene Argumentationen eingehen, die mir gut gefallen haben, darin auch das Spektrum in seiner Weite andeutend:
Im Aufsatz „Religiöse Wurzeln der Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht“ [132-146] erklärt Härle: „Die Theologie verliert dann ihre Sachorientierung und ihren Sachbezug, wenn sie meint, über fremden Glauben mit den Mitteln kommunizieren zu können, wie über den eigenen christlichen Glauben“ [141]. Aus diesem Grundsatz entwickelt er eine Argumentation, die über die giftige Alternative, „allen Andersgläubigen das Heil abzusprechen“ oder „allen Andersgläubigen das Heil“ pauschal „zuzusprechen“ [145] hinausführt, weil wir ja das „Trachten der Herzen weder erkennen können noch erkennen sollen,“ [146, vgl. 1 Korinther 4,3-5]. Es besteht also nicht nur die Gefahr, mit dem Unkraut auch den Weizen auszureißen, sondern uns ist schon das Urteil verwehrt, wer zum Unkraut und wer zum Weizen gehört. [146] Und darum hat Luther Recht, wenn er in einer Erläuterung zur achtzigsten seiner 95 Thesen erklärt: „Dass Häretiker verbrannt werden, ist gegen den Willen des Heiligen Geistes“, [137] was in diesem Aufsatz gleichsam das Beweisziel ist. So überzeugend das alles ist, so hätte ich mir doch eine Einbeziehung der Erfahrungstatsache gewünscht, dass Religionen als Manifestationen der kulturellen Vielfalt des Menschengeschlechtes im Dialog voneinander lernen, und sei es dadurch, dass die Anfragen des anderen Glaubens mich zwingen, meinen eigenen Glauben neu zu durchdenken und vielleicht vertieft zu entdecken. Das ist ganz sicher der Fall gewesen, als das Christentum aus dem jüdischen Kulturraum heraustrat in die griechische und römische Welt.
Im Aufsatz "Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes" [343-366] unternimmt Härle eine Rehabilitierung der Rede vom Zorn Gottes. Er gewinnt dafür einen Ausgangspunkt in der Unterscheidung von zweierlei Zorn: Aus „verletzter Liebe“ oder „empörter Selbstsucht“. [346, zitiert bei Gustav Stählin]. Ist aber Gott auf uns böse, weil wir hinter unserer Berufung zurückbleiben, in diesem Sinn also aus verletzter Liebe, so könnten wir nichts Besseres tun als uns seinem Willen „bedingungslos und vertrauensvoll“ anheimgeben „und sei es, indem wir die Hölle ertragen, wenn dies Gottes Wille ist.“ [365] Solches Gottvertrauen würde aber schon aus der Hölle befreien, weil es „unmöglich ist, dass außerhalb von Gott bleibt, wer sich so vollständig in den Willen Gottes hineinbegibt.“ [366; mit Martin Luther] Darüber zu urteilen, ob das rettende Vertrauen zuletzt alle Menschen rettet, ob also Gottes Liebe allen Zorn überwindet, steht uns jedoch schlechterdings nicht zu.
Der Aufsatz „Braucht der Osterglaube das leere Grab?“ [423-434] könnte einen geradezu befreienden Effekt haben. Würde das leere Grab als historisches Faktum nämlich Gegenstand des christlichen Glaubens sein, dann wäre es ein Glaube, der durch allerhand wirkliche oder betrügerische Entdeckungen im Heiligen Land jederzeit in seiner Existenz bedroht wäre. Und so ist es, wie Härle zeigt, aus theologischen Gründen nicht! Das leere Grab als solches beschreibt Härle als „vieldeutiges und rückwärtsgewandtes Zeichen“, es könnte bedeuten, dass Jesus gar nicht tot war oder „wiederbelebt“ wurde oder sein Leib aus dem Grab entfernt wurde – entweder durch Grabraub oder durch Verwandlung in einen himmlischen geistlichen Leib. [431] Mit dem Osterglauben, dessen Botschaft „keine negative, rückwärtsgewandte“ ist, könnte das Verschwindenlassen des Leibes durch Gott vereinbart, darf aber nicht damit identifiziert werden, denn wir hoffen „ja nicht darauf, dass unsere Gräber leer sein werden, sondern dass wir bei dem Herrn sein werden allezeit.“ [432; vgl. 1 Tessalonicher 4,17] Die Raubgräber im Heiligen Land können unseren Glauben also nicht anfechten, egal was sie finden oder fälschen.
Wie gesagt: Eine willkürliche Auswahl, aus der nicht gefolgert werden darf, die anderen Aufsätze seien weniger relevant. Der Erkenntnisgewinn durch Lektüre einer Rezension muss aber hinter demjenigen durch Lektüre des rezensierten Werkes zurückstehen.
Dr. Karl Vörckel